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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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das keinen Schritt zu tun vermag, ohne daß das Pflaster aufsteht, um sie anzuklagen, das einzig bemerkenswert ist durch das vergängliche Vorrecht einer Schönheit, die vielleicht morgen schon eine Krankheit vernichtet: kann dieses verderbte, erniedrigte Geschöpf, das seine Erniedrigung kannte – ohne dieses Wissen und mit weniger Liebe wären Sie eher entschuldbar gewesen –, kann die künftige Beute des Selbstmords und der Hölle Lucien von Rubemprés Frau werden?«
    Jeder Satz war ein Dolchstoß, der im innersten Herzen traf. Bei jedem Satz zeugten das immer sich steigernde Schluchzen und die reichlichen Tränen des verzweifelten Mädchens für die Gewalt, mit der das Licht hereinbrach in ihren Verstand, der unbelehrt war wie der eines Wilden, in ihre endlich erweckte Seele, in ihr eigentliches Wesen, über das die Verderbtheit eine Schicht kotigen Eises gebreitet hatte, die jetzt an der Sonne des Glaubens schmolz.
    »Weshalb bin ich nicht gestorben!« das war der einzige Gedanke, dem sie mitten unter den Gedankenströmen, die ihr durch das Gehirn jagten und es verheerten, Ausdruck gab. »Liebes Kind,« sagte der furchtbare Richter, »es gibt eine Liebe, die sich vor Menschen nicht bekennen läßt und deren Geständnis mit glücklichem Lächeln Engel entgegennehmen.« »Welche?« »Die Liebe, die ohne Hoffnung ist, wenn sie Leben einhaucht, wenn sie den Keim der Hingebung hineinsenkt, wenn sie alle Handlungen veredelt durch den Gedanken, eine ideale Vollkommenheit zu erreichen. Ja, dieser Liebe spenden die Engel Beifall, sie führt zur Kenntnis Gottes. Sich unablässig vervollkommnen, um dessen, den man liebt, würdig zu werden, ihm tausend heimliche Opfer bringen, ihn aus der Ferne anbeten, Tropfen um Tropfen sein Blut hingeben, ihm seine Eigenliebe darbringen, keinen Stolz noch Zorn ihm gegenüber mehr kennen, ihm selbst die grauenhafte Eifersucht verhehlen, die er im Herzen entzündet, ihm alles geben, was er wünscht, und wäre es zum eigenen Schaden, lieben, was er liebt, stets das Gesicht zu ihm gewendet halten, um ihm zu folgen, ohne daß er es weiß: eine solche Liebe hätte die Religion Ihnen vergeben; sie hätte weder die menschlichen noch die göttlichen Gesetze verletzt und Sie einen andern Weg geleitet als den Ihrer schmutzigen Wollust.«
    Als Esther diesen furchtbaren Spruch vernahm, der in einem einzigen Wort – und was für einem Wort, begleitet von was für einem Tonfall! – Ausdruck fand, fühlte sie sich von einem nicht unberechtigten Mißtrauen ergriffen. Dieses Wort wirkte wie ein Donnerschlag, der ein ausbrechendes Gewitter verrät. Sie sah den Priester an, und es ergriff sie jener innere Krampf, der den Mutigsten packt, wenn er sich einer drohenden Gefahr plötzlich gegenübersieht. Kein Blick hätte zu lesen vermocht, was jetzt in diesem Manne vorging; aber selbst der Verwegenste hätte eher gebebt als gehofft beim Anblick seiner Augen, die einmal wie die des Tigers klar und gelb gewesen waren und über die Kasteiung und Entbehrungen einen Schleier gelegt hatten, wie er mitten in den Hundstagen über den Horizonten liegt: die Erde ist heiß und leuchtet, aber der Nebel macht sie undeutlich, dunstig; sie wird fast unsichtbar. Ein geradezu spanischer Ernst und tiefe Falten, denen die tausend Narben einer scheußlichen Pockenkrankheit ihre Häßlichkeit und ihre Ähnlichkeit mit aufgewühlten Gleisen gaben, durchfurchten sein olivenfarbenes und von der Sonne gedunkeltes Gesicht. Die Härte dieser Züge trat um so mehr hervor, als es eingerahmt war von der dürftigen Perücke des Priesters, der sich um sein Äußeres nicht mehr kümmert, einer kahlen Perücke, deren Schwarz im Licht rot aussah. Sein athletischer Oberkörper, seine Hände, die denen eines alten Soldaten glichen, sein breiter Rücken und seine starken Schultern gehörten jenen Karyatiden an, die die Baumeister des Mittelalters bei einigen italienischen Palästen verwandten und an die noch jene der Fassade des Theaters der Porte Saint-Martin unvollkommen erinnern. Die wenigst klarblickenden Leute wären auf den Gedanken gekommen, daß nur die heißesten Leidenschaften oder recht ungewöhnliche Erlebnisse diesen Menschen in den Schoß der Kirche getrieben hätten; sicherlich hatten nur die erstaunlichsten Blitzschläge ihn wandeln können, wenn anders eine solche Natur einer Wandlung fähig war. Frauen, die ein Leben geführt haben, wie Esther es damals so heftig verabscheute, kommen zu einer absoluten Gleichgültigkeit gegen

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