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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Jakob Collin, dessen Gehirn vor Wahnsinn fast in Flammen stand, spürte so verzehrenden Durst, daß er, ohne es zu merken, alles Wasser aus dem einen der beiden Kübel austrank, die mit dem Bett das ganze Mobiliar einer Einzelhaftzelle bilden.
    ›Wenn er den Kopf verliert, was soll da aus ihm werden? Denn dieses teure Kind hat nicht Theodors Kraft! ...‹ fragte er sich, indem er sich auf das Feldbett legte, das dem in einer Wachtstube ähnlich war.
    Ein Wort über diesen Theodor, dessen Jakob Collin sich in dieser entscheidenden Stunde entsann. Theodor Calvi, ein junger Korse, der im Alter von achtzehn Jahren wegen elffachen Mordes zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wurde, war von 1819 bis 1820 dank gewisser Gönnerschaften, die mit Gold erkauft worden waren, Jakob Collins Kettengenosse gewesen. Jakob Collins letzter Ausbruch, einer seiner besten Streiche – er war als Gendarm verkleidet fortgegangen und führte Theodor Calvi als Sträfling neben sich her, als würde er zum Kommissar geführt –, erfolgte im Hafen von Rochefort, wo die Sträflinge häufig sterben und wo man auch diese beiden gefährlichen Persönlichkeiten sterben zu sehen hoffte. Nach ihrem gemeinsamen Ausbruch hatten die Zufälle der Flucht sie gezwungen, sich zu trennen. Theodor wurde wieder ergriffen und ins Bagno zurückgeschickt. Nachdem Jakob Collin sich nach Spanien begeben und dort die Verwandlung in Carlos Herrera vollzogen hatte, wollte er seinen Korsen in Rochefort abholen, als er an den Ufern der Charente Lucien begegnete. Der Held der Banditen und korsischen Wildnisse wurde diesem neuen Idol natürlich geopfert.
    Das Leben mit Lucien, einem von aller Verderbnis noch unberührten Burschen, der sich nichts vorzuwerfen hatte als kleine Vergehungen, stand zudem schön und herrlich vor ihm da wie die Sonne eines Sommertages. Im Bunde mit Theodor dagegen sah Jakob Collin keinen andern Ausgang vor sich, als nach einer unausbleiblichen Reihe von Verbrechen das Schafott.
    Der Gedanke, daß die Schwäche Luciens, der in der Abgeschlossenheit der Einzelhaft den Kopf verlieren mußte, ein Unglück anrichten könnte, nahm in Jakob Collins Vorstellung ungeheure Dimensionen an; und als er die Möglichkeit einer Katastrophe sah, fühlte dieser Unglückliche, wie ihm die Augen von Tränen feucht wurden: eine Erscheinung, die sich bei ihm seit seiner Kindheit nicht ein einziges Mal eingestellt hatte. ›Ich muß ein Roßfieber haben,‹ sagte er bei sich selber; ›vielleicht würde mich der Arzt, wenn ich ihn kommen lasse und ihm eine große Summe anbiete, mit Lucien in Verbindung bringen.‹
    In diesem Augenblick brachte der Aufseher dem Untersuchungsgefangenen die Mittagsmahlzeit. »Das ist überflüssig, mein Bursche, ich kann nicht essen. Sagen Sie dem Herrn Direktor dieses Gefängnisses, er möchte mir den Arzt schicken; ich befinde mich so schlecht, daß ich glaube, meine letzte Stunde ist gekommen.«
    Als der Aufseher die röchelnden Gutturallaute hörte, mit denen der Sträfling seine Worte begleitete, neigte er den Kopf und ging hinaus. Jakob Collin klammerte sich wütend an diese eine Hoffnung; aber als er den Doktor von dem Direktor begleitet in seine Zelle eintreten sah, hielt er seinen Versuch schon für mißlungen, und er wartete kühl das Ergebnis des Besuches ab, indem er dem Arzt seinen Puls hinhielt.
    »Der Herr hat Fieber,« sagte der Doktor zu Herrn Gault; »aber es ist das Fieber, das wir bei allen Untersuchungsgefangenen wiederfinden und das«, flüsterte er dem falschen Spanier ins Ohr, »für mich stets der Beweis irgendeines Verbrechens ist.«
    In diesem Augenblick ließ der Direktor, dem der Oberstaatsanwalt Luciens Brief an Jakob Collin gegeben hatte, damit er ihn ihm übermittelte, den Doktor und den Gefangenen unter der Aufsicht des Wächters allein, um diesen Brief zu holen.
    »Herr Doktor,« sagte Jakob Collin, als er nur den Aufseher an der Tür stehen sah, ohne sich die Abwesenheit des Direktors erklären zu können, »ich würde nicht auf dreißigtausend Franken sehen, wenn ich Lucien von Rubempré fünf Zellen zukommen lassen könnte.« »Ich will Ihnen Ihr Geld nicht stehlen,« sagte der Doktor Lebrun; »mit ihm kann sich niemand in der Welt mehr in Verbindung setzen ...« »Niemand?« sagte Jakob Collin verblüfft, »und weshalb nicht?« »Nun, er hat sich erhängt ...«
    Nie hat ein Tiger, der seine Jungen entführt fand, die indischen Dschungeln mit einem so grauenhaften Schrei durchdrungen, wie Jakob

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