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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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unklugerweise zu meinen Gunsten verfügt haben.
    Leben Sie also wohl, leben Sie wohl, grandioses Standbild des Bösen und der Verderbnis; leben Sie wohl, der Sie auf dem guten Wege mehr geworden wären als Ximenez, mehr als Richelieu! Sie haben Ihr Versprechen gehalten: ich bin wieder das, was ich am Ufer der Charente war; doch verdanke ich Ihnen inzwischen den Zauber eines Traumes; aber unglücklicherweise ist es nicht mehr der Fluß meiner Heimat, in dem ich die kleinen Sünden meiner Jugend ertränken wollte: es ist die Seine, und mein Loch ist eine Zelle der Conciergerie.
    Sehnen Sie sich nicht nach mir zurück: meine Verachtung für Sie war meiner Bewunderung gleich.
    Lucien.
     
    Als man kurz vor ein Uhr morgens kam, um die Leiche abzuholen, fand man Jakob Collin vor dem Bett knieend vor; der Brief lag am Boden; ohne Zweifel hatte er ihn fällen lassen, wie der Selbstmörder die Pistole fallen läßt, die ihn getötet hat; aber Luciens Hand hielt der Unglückliche immer noch zwischen seinen gefalteten Händen, und er betete zu Gott.
    Als die Träger diesen Menschen sahen, blieben sie einen Augenblick stehen, denn er glich einer jener Steinfiguren, die für die Ewigkeit auf den Gräbern des Mittelalters knien, erfunden vom Genie der Steinmetzen. Dieser falsche Priester mit den hellen Tigeraugen flößte diesen Leuten in seiner übernatürlichen, starren Reglosigkeit eine solche Achtung ein, daß sie ihm sanft sagten, er möge sich erheben.
    »Weshalb? ...« fragte er schüchtern. Der verwegene Betrüg-den-Tod war schwach geworden wie ein Kind.
    Der Direktor zeigte dieses Schauspiel Herrn von Chargeboeuf, der, von Ehrfurcht vor einem solchen Schmerz erfaßt, zumal er an die Vaterschaft glaubte, die Jakob Collin sich zulegte, die Befehle des Herrn von Granville über den Totendienst und die Überführung Luciens auseinandersetzte; man müsse ihn unbedingt in seine Wohnung am Quai Malaquais bringen, wo die Geistlichkeit ihn erwartete, um während des Restes der Nacht bei ihm zu wachen.
    »Daran erkenne ich die große Seele dieses Richters,« rief der Sträfling mit schwacher Stimme aus. »Sagen Sie ihm, er könne auf meine Dankbarkeit zählen ... Ja, ich bin imstande, ihm große Dienste zu leisten ... Vergessen Sie diesen Satz nicht, er ist für ihn von höchster Bedeutung. Ach, es gehen seltsame Wandlungen vor im Herzen eines Menschen, wenn er sieben Stunden lang um einen solchen Sohn geweint hat ... Ich soll ihn also nicht mehr sehen ...«
    Und nachdem Jakob Collin Lucien mit dem Blick einer Mutter betrachtet hatte, der man die Leiche ihres Sohnes wegnimmt, brach er in sich selber zusammen. Während er zusah, wie man Luciens Leiche forttrug, entschlüpfte ihm ein Stöhnen, das die Träger zur Eile antrieb.
    Der Sekretär des Oberstaatsanwalts und der Direktor des Gefängnisses hatten sich diesem Schauspiel bereits entzogen.
    Was war aus dieser ehernen Natur geworden, bei der die Entscheidung an Geschwindigkeit dem Blick gleichkam, bei der Denken und Handeln wie ein einziger Blitz aufsprang, deren Nerven, abgehärtet durch drei Ausbrüche, durch drei Aufenthalte im Bagno, die metallische Härte der Nerven eines Wilden erreicht hatten? Das Elsen gibt nach unter einem bestimmten Grad von Schlägen oder unter wiederholtem Druck; seine undurchdringlichen Moleküle, die der Mensch gereinigt und gleichartig gemacht hat, lockern sich; und ohne daß das Metall schmilzt, hat es doch nicht mehr die gleiche Widerstandskraft. Die Hufschmiede, die Schlosser, die Metallschneider, alle Arbeiter, die beständig dieses Metall bearbeiten, drücken seinen Zustand dann durch ein Wort ihrer Fachsprache aus: ›Das Eisen ist müde!‹ sagen sie. Nun, in einem ähnlichen Zustand wie das Eisen befindet sich auch die menschliche Seele oder, wenn man will, die dreifache Energie des Körpers, des Herzens und des Geistes, wenn sie wiederholt gewissen Stößen ausgesetzt war. Dann geht es mit den Menschen wie mit dem Eisen: ›sie sind müde‹. Die Wissenschaft, die Rechtsprechung und das Publikum suchen tausend Ursachen für die furchtbaren Katastrophen, die bei den Eisenbahnen der Bruch einer Eisenschiene im Gefolge hat; das furchtbarste Beispiel war die Katastrophe von Bellevue; aber niemand hat die wirklichen Kenner in diesen Dingen gefragt, die Schmiede, die alle dasselbe sagten: ›Das Eisen war müde.‹ Diese Gefahr läßt sich nicht voraussehen. Das weich gewordene und das widerstandskräftig gebliebene Metall zeigen denselben

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