Glanz
noch krankgemeldet. Ich setzte meine ganze Überredungskunst ein, um von einer der anderen Schwestern ihre private Telefonnummer zu bekommen. Nach dem siebten Klingeln nahm jemand ab, eine junge Frau, deren Namen ich nicht genau verstand. Ich fragte nach Maria Morrison.
»Augenblick, ich hole sie …« Dann eine kurze Pause.
»Hallo?«
»Maria? Hier ist Anna Demmet.«
»Was ist los? Sie klingen so fröhlich. Ist Eric aufgewacht?«
»Nein. Ich brauche die Telefonnummer von Emily.«
»Die kann ich Ihnen nicht geben.«
»Maria, bitte! Sie war gestern hier. Wir haben gemeinsam versucht, Erics Seele zu erreichen, es jedoch nicht geschafft. Aber ich habe vielleicht eine Möglichkeit gefunden, wie wir zu ihm vordringen können. Das glaube ich zumindest.«
»Meiner Tante geht es nicht gut«, erwiderte Maria.
Das vertrieb meine Euphorie für einen Moment. Ich dachte an ihre blutunterlaufenen Augen, und zum ersten Mal, seit ich die Kapsel genommen hatte, befielen mich wieder Zweifel. »Darf ich bitte mit ihr sprechen?«
»Es tut mir leid, aber sie braucht Ruhe.«
Ich spürte, wie Wut in mir aufkeimte. Mein Sohn lag im Koma, und Maria erzählte mir, dass ihre Tante Ruhe brauche! Ich schluckte meinen Zorn herunter. »Bitte, Maria, ich möchte nur kurz mit ihr sprechen.«
»Also schön. Aber bitte, Mrs. Demmet, schonen Sie sie!«
Ich verließ das Krankenhaus und wählte die Nummer, die Maria mir genannt hatte, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Ich sprach Emily eine Nachricht auf. Da Mobiltelefone im Krankenhaus ausgeschaltet bleiben mussten, ging ich in der Hoffnung auf einen Rückruf spazieren.
Bald darauf stand ich am Ufer des East River, an derselben Stelle, an der ich vor wenigen Tagen das junge Liebespärchen mit dem geteilten Kaugummi gesehen hatte. Der Fluss, die Bäume, die Menschen erstrahlten in jenem intensiven, von innen kommenden Licht, das die ganze Welt verzauberte. Selbst die grauen Anleger und Lagerhallen auf der anderen Flussseite wirkten auf einmal einladend. Ich hätte laut singen können vor Glück, doch meine anerzogene Zurückhaltung verbot es mir.
Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass sich Emily tatsächlich melden würde, doch nachdem ich ein Stück am Ufer entlang Richtung Süden gewandert war, klingelte mein Handy.
»Danke, dass du zurückrufst, Emily«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
Sie schwieg einen Moment. »Was ist los?«
»Ich möchte es noch einmal probieren. Ein letztes Mal.«
»Nein.« Es klang endgültig. Ich begriff, dass sie mich nur zurückgerufen hatte, um mir das zu sagen: Ich konnte mit ihrer Hilfe nicht mehr rechnen. Sie hatte alles getan, was sie konnte. Ich sollte sie in Ruhe lassen.
»Emily, bitte! Ich weiß, dass wir ihn gemeinsam zurückholen können.«
»Wir beide haben nicht die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, Anna. Manchmal muss man die Wahrheit akzeptieren. Manchmal muss man das, was man liebt, loslassen.«
Tränen schossen mir in die Augen. Die von der Kapsel ausgelöste Euphorie war wie weggeblasen. Die Vorstellung, Eric könnte sterben, presste die Luft aus meinen Lungen. »Verlangst du wirklich von mir, ihn aufzugeben? Er ist mein Sohn!«, schluchzte ich. »Wenn ich ihn verliere, dann … dann will ich auch sterben.«
»So etwas darfst du nicht sagen«, mahnte Emily, doch ihre Stimme war sanfter geworden. »Das Leben ist heilig. Man darf es nicht einfach wegwerfen!«
»Dann hilf mir, sein Leben zu retten!«
Emily schwieg einen Moment. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Ein letztes Mal. Ich bin gegen achtzehn Uhr im Krankenhaus.«
»Danke, Emily. Vielen Dank.«
Sie legte kommentarlos auf.
Pünktlich um sechs erschien sie. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen. Ihre Augen waren nicht mehr blutunterlaufen, hatten jedoch eine kränklich gelbe Farbe. Sie musterte mich mit ausdruckslosem Blick. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich neben Erics Bett, ergriff seine rechte Hand und hielt mir die andere hin.
Ich nahm sie, und in der nächsten Sekunde stand ich dort.
6.
Ich sehe mich um. Die Ebene erstreckt sich, so weit das Auge reicht. Immer noch nehme ich die Welt nur durch jenen schwarzen Schleier wahr,
doch das Gefühl, wirklich hier zu sein, ist überwältigend.
Ich blicke an mir herab. Statt Jeans und T-Shirt trage ich ein schwarzes wallendes Gewand aus dünnem Stoff. Es streichelt sanft meine Haut,
kitzelt an der Nase. Ich spüre groben Sand unter meinen nackten Fußsohlen.
Ich hebe eine Hand und halte
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