Glanz
fragenden Blick mit einem Schulterzucken.
Ich streckte meine Hand aus und legte sie sanft auf Emilys.
Es war, als öffne sich ein Abgrund unter mir. Der Raum drehte sich um mich, dann umgab mich Schwärze. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, nicht mehr in dem Krankenzimmer zu sein, sondern auf einer weiten, leeren Ebene, bedeckt mit Steinen und grauem Sand, unter einem blassen, konturlosen Himmel.
Ich schrie auf vor Schreck.
Ich öffnete die Augen und begriff erst in diesem Moment, dass ich sie geschlossen hatte. Emily blickte mich an. Ihre Augen waren geweitet, ihr Gesicht totenbleich. »Tun Sie das nie wieder!«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Was … was war das?«, fragte ich.
Emilys Augen verengten sich. »Was haben Sie gesehen?«
»Da … da war so eine Art Wüste … Steine, Sand … alles war grau und leer …«
Emily stand auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.
»Nein, warten Sie! Emily, bitte!« Ich hatte keine Ahnung, was da gerade geschehen war, aber ich wusste, es war etwas Außergewöhnliches. Etwas, das mein nüchternes Weltbild zertrümmerte und meinen New Yorker Realismus, auf den ich so stolz war, im Handumdrehen wie Engstirnigkeit und Borniertheit erscheinen ließ.
Ich war mir sicher: Ich hatte für einen kurzen Moment gesehen, was Erics verirrter Verstand sah.
Ich hatte seine Seele berührt.
4.
Ich fühlte mich plötzlich klein und bedeutungslos, war gleichzeitig überwältigt von dem, was ich soeben erlebt hatte. Es war, als sei alles, was ich bisher für die Realität gehalten hatte, nur eine Fassade, die etwas viel Größeres, viel Bedeutenderes verbarg. »Bitte, Emily, hilf mir!«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. »Bitte, bring mich noch einmal zu ihm!«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Das geht nicht! Sie haben offenbar ebenso wie ich die Gabe, Seelen zu berühren. Aber Sie haben keinerlei Erfahrung damit, und er ist Ihr Sohn. Niemand kann sagen, was geschieht, wenn Ihre Seelen sich so nahe kommen. Dafür kann ich die Verantwortung nicht übernehmen!«
Ich fasste Eric an beiden Händen, schloss die Augen und versuchte, das Bild heraufzubeschwören, das ich so deutlich gesehen hatte. Doch da war nichts. Ohne Emilys Hilfe konnte ich den Kontakt nicht herstellen.
Ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. »Anna, Ihr Sohn wird seinen Weg auch ohne uns finden, da bin ich sicher.«
Ich blickte auf, direkt in ihre sanften Augen, und sah, dass es eine Lüge war. Ich kämpfte die Tränen nieder. »Was haben Sie gesehen?«
»Dasselbe wie Sie: eine leere Ebene.«
»Was hat das zu bedeuten, Emily?«
»Ich weiß es nicht. Aber …«
»Was, aber?«
»Normalerweise ist es anders. Normalerweise sehe ich Gesichter, manchmal diffuse Farben oder Formen, gelegentlich auch Erinnerungsfetzen, meist von schlimmen Ereignissen. Aber ich habe noch nie etwas so klar gesehen. Und niemals zuvor eine solche Landschaft. So … leer.«
Ich spürte, dass sie noch nicht alles gesagt hatte, also wartete ich.
»Er war nicht dort«, sagte sie nach einem Moment. »Ich habe überall gesucht, doch ich konnte Erics Seele nicht finden.«
»Aber ich kann es!« Ich hatte keine Ahnung, woher die plötzliche Gewissheit kam, aber sie war da. »Maria hat von einer Art Kompass gesprochen, mit dem die Seelen den Weg zum Licht finden, nicht wahr?«
Emily nickte langsam.
»Ich bin sicher, ich habe auch so einen Kompass. Ich glaube, jede Mutter hat ihn in Bezug auf ihre Kinder. Ich kann ihn bestimmt aufspüren. Sie müssen mich nur noch einmal an diesen Ort bringen!«
»So einfach ist das nicht«, sagte Emily. »Es ist schon sehr anstrengend, wenn man es allein macht. Zu zweit hab ich es noch nie probiert. Und wie ich schon sagte, es ist gefährlich.«
»Es ist mir egal, ob es gefährlich ist!«, rief ich. »Mein Sohn wird nie wieder aufwachen, wenn wir ihm nicht helfen!«
»Anna, es liegt nicht in unserer Hand, ob er …«
»Doch, das liegt es, verdammt noch mal!« Zorn durchströmte mich. Ich war Erics Rettung so nah, und nun kam mir diese merkwürdige Frau mit irgendwelchen esoterischen Bedenken.
Emily seufzte. »Also schön. Ich brauche jetzt etwas Ruhe, aber ich komme morgen wieder. Dann versuchen wir es noch einmal.«
Durch den Schleier meiner Tränen erschien ihr Gesicht auf einmal strahlend schön. »Danke!«, sagte ich nur.
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ich träumte davon, auf einer leeren Ebene herumzuirren, die ich nie mehr verlassen konnte.
Als Eric fünf Jahre alt
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