Glanz
es nicht mehr aus und legte meine Hand auf ihre. Doch diesmal gab es kein schockartiges Erlebnis, kein verwirrendes Gefühl, an einen anderen Ort versetzt zu werden. Alles, was ich erreichte, war, dass Emily seufzte und die Augen öffnete.
Ich erschrak. Ihre Augen waren blutunterlaufen.
»Es … es tut mir leid, Anna«, sagte sie. »Es geht nicht. Ich kann ihn einfach nicht finden!«
5.
Nichts ist grausamer als aufkeimende Hoffnung, die jäh zerstört wird.
An diesem Abend fiel ich in eine tiefe Depression. Ich legte mich aufs Bett, ohne mich vorher auszuziehen, und starrte einfach ins Leere. Ich hatte nicht einmal genug Energie, um zu weinen.
Irgendwann schlief ich ein. Als ich erwachte, war es heller Tag. Der Wecker zeigte 11.24 Uhr. Normalerweise war ich um diese Zeit schon längst bei Eric, doch ihn dort liegen zu sehen, unerreichbar trotz Emilys erstaunlicher Fähigkeiten, war mehr, als ich heute verkraften konnte.
Ich hatte bohrende Kopfschmerzen. Es war keiner der Migräneanfälle, die mich gelegentlich überfielen. Stattdessen schien mein Schädel mit kleinen stachligen Kugeln gefüllt zu sein, die sich unablässig um sich selbst drehten und dabei ein hässliches knirschendes Geräusch machten. Vermutlich war es so etwas wie geistiger Muskelkater, eine Nachwirkung der Anstrengungen meines gestrigen Kontaktversuchs mit Erics Seele. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie sich Emily jetzt fühlen musste.
Ich stand auf, wankte in die Küche und kramte in der Schublade, bis ich eine halbleere Packung Aspirin fand. Ich drückte eine Tablette aus der Plastikhülle und betrachtete sie nachdenklich in meiner offenen Hand.
Ein Gedanke durchzuckte mich, und ich vergaß meine Schmerzen. Ich ging in Erics Zimmer und öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs. Der Plastikbeutel lag immer noch dort. Ich zählte neunzehn blaue Kapseln.
Ich nahm eine heraus und drehte sie zwischen den Fingern. Sie fühlte sich weich und glatt an, irgendwie freundlich. Die hellblaue Ummantelung wirkte harmlos wie Kinderspielzeug.
Ich legte den Beutel zurück in die Schublade, ging in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser und schluckte die Kapsel. Dann setzte ich mich ins Wohnzimmer und sah hinaus auf den kleinen Park. Auf dem Basketballfeld auf der anderen Straßenseite spielten Schulkinder in Erics Alter. Ein paar Krähen kreisten über den Bäumen. In der Ferne sah ich die Spitzen der Wolkenkratzer des Finanzdistrikts aufragen, dort, wo früher die Zwillingstürme des World Trade Center gestanden hatten.
Ich merkte, wie allmählich wieder Hoffnung in mir aufkeimte. Ich war in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. New York war ein globales Symbol, eine Stadt, die Schreckliches erlebt hatte, die sich jedoch nicht unterkriegen ließ. Eine New Yorkerin gibt niemals auf!
Neue Kraft begann in meinen Adern zu pulsieren, eine Energie, wie ich sie seit langem nicht mehr gespürt hatte. Ich fühlte mich gut. Nein, »großartig« war das passendere Wort.
Ich stand auf, um einen kleinen Fleck an der Wand über dem Fernseher näher zu betrachten. Er war mir noch nie zuvor aufgefallen.
Aus dem Augenwinkel nahm ich etwas wahr – ein seltsames Licht. Ich drehte mich um und sah, dass das ganze Zimmer zu leuchten schien. Es war keine externe Lichtquelle, die diesen Effekt verursachte. Es waren die Möbel selbst, die Bilder, selbst der abgenutzte Holzfußboden, die von innen heraus erglühten. Ich sah an mir herab und erkannte, dass auch ich selbst in diesem merkwürdigen Licht erstrahlte, als sei ich eine Figur in einer Leuchtreklame bei Nacht.
Alles sah auf einmal viel kräftiger, strahlender aus, viel bunter und lebendiger. Viel wirklicher.
Ein breites Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Es funktionierte! Die Kapseln trugen den Namen »Glanz« zu Recht.
Ich duschte, zog mir frische Kleidung an und stellte mich zum ersten Mal seit Wochen vor den Spiegel, um mich zu schminken. Mein Gesicht zeigte deutliche Spuren der Strapazen, doch es erschien mir trotzdem kraftvoll und schön. Ein fröhlicher Glanz lag in meinen Augen, den ich dort wohl seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte.
Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, den Anrufbeantworter abzuhören, dessen Nachrichtenspeicher längst voll war, vielleicht Jerry anzurufen und ihm zu erklären, warum ich mich in den letzten Wochen nicht gemeldet hatte. Doch ich verwarf die Idee – es gab jetzt Wichtigeres zu tun.
Ich fuhr ins Krankenhaus. Maria war immer
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