Glanz
einer jungen Frau gesehen zu haben, die vor der Tür vorbeiging. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Maria?«, fragte ich unsicher, wissend, dass sie es eigentlich nicht sein konnte – wie hätte sie ohne Schlüssel in meine Wohnung kommen sollen? Oder hatte sie geklingelt, und ich hatte ihr im Halbschlaf geöffnet, ohne mich jetzt daran zu erinnern? Aber was tat sie überhaupt hier?
»Maria?«, rief ich erneut. Ich stand auf und ging mit immer noch wackligen Schritten in die Küche. Dort war niemand. Auch das Wohnzimmer, Erics Zimmer und das Bad waren leer. Ich ging auf die Toilette. Als ich danach den kleinen Flur betrat, hatte ich plötzlich das Gefühl, eine Tür übersehen zu haben – so als gebe es noch einen weiteren Raum in meinem engen Apartment, den ich bisher einfach nicht wahrgenommen hatte. Aber das war natürlich Unfug.
Allmählich beruhigte ich mich wieder. Offensichtlich hatte mein Gehirn Schwierigkeiten, mit dem Wechsel zwischen Erics Traumwelt und der Realität klarzukommen.
Ich machte mir einen starken Kaffee, während mein |81| Puls sich normalisierte. Da der Kühlschrank praktisch leer war, ging ich einkaufen und machte mir ein paar Sandwiches und einen Salat. Danach fühlte ich mich besser.
Ich nahm eine der bläulichen Kapseln aus der Tüte in Erics Zimmer und legte den Rest zurück. Dann überlegte ich es mir anders und steckte noch eine zweite ein. Vielleicht konnte eine höhere Dosis des Medikaments die Aufenthaltsdauer in der Traumwelt verlängern. Immerhin konnte mein heutiger Ausflug mein letzter sein, denn ich spürte, dass Emilys Bereitschaft, mir zu helfen, rapide abnahm. Ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen – die Belastung für sie musste enorm sein, und schließlich war Eric nicht ihr Kind.
Ich dachte an ihr eingefallenes Gesicht und ihre blutunterlaufenen Augen. Ich musste einen Weg finden, die Odyssee in Erics Geist zu beenden, und zwar schnell.
Mein Blick fiel auf seinen Laptop. Eine blinkende Leuchtdiode zeigte an, dass er sich im Standby-Modus befand. Ich erinnerte mich, dass ich den Computer nicht heruntergefahren, sondern nur zugeklappt hatte.
Ich hob den Bildschirm an. Nach kurzer Zeit erschien wieder dasselbe Bild wie an jenem unheilvollen Morgen: der Leichnam eines Kriegers, von schwarzen Vögeln bedeckt, darunter das Eingabefeld mit den drei Schaltknöpfen.
Ich überwand meine Abscheu und betrachtete den Krieger genauer. Er sah tatsächlich so aus wie der junge Mann, den ich in Erics Traumwelt getroffen hatte: dieselbe Rüstung, derselbe Helm, dieselben muskulösen Oberarme. Das Gesicht war von den ekelhaften Vögeln verdeckt.
Eines der Tiere wandte zufällig den Kopf und schien genau in meine Richtung zu starren. Seine schwarzen Augen hatten nur Pixelgröße, doch ich hatte den Eindruck, dass etwas Böses darin lag. Der Vogel drehte sich wieder um |82| und fuhr damit fort, an Erics – nein, am Arm des Computerspiel-Kriegers zu picken.
Ich griff nach der Maus, überlegte einen Moment und klickte dann auf »Spielstand laden«. Ein Auswahlbildschirm erschien, auf dem mehrere Spielstände zur Verfügung standen.
Ich klickte auf den obersten. Ein Fortschrittsbalken erschien, der sich langsam füllte. Dann wurde eine Landschaft aus der Vogelperspektive gezeigt. Eine Landschaft mit Tümpeln öligen schwarzen Wassers, zwischen denen bleiche Pflanzen mit blasenartigen Auswüchsen aufragten. Der griechische Held stand in der Bildmitte am Rand eines Tümpels, das Schwert in der Rechten.
Meine Hand zuckte von der Maus zurück, als hätte die mich gebissen, und ein Schwindelgefühl überkam mich. Dies war der Sumpf, durch den ich gestern selbst geirrt war! Für einen Moment war ich fassungslos. Dann begriff ich, was das bedeutete: Erics Traumwelt war eine exakte Abbildung des Computerspiels. Ich konnte sie erkunden, indem ich an seinem Laptop spielte! Vielleicht fand ich so einen Hinweis darauf, wo dieses Tor des Lichts sein mochte.
Computerspiele hatten mich nie interessiert, und Erics Faszination dafür war mir immer unverständlich geblieben. Ich wusste natürlich, dass sehr viele Jugendliche einen großen Teil ihrer Zeit am Computer verbrachten. Die Medien waren voll von Berichten über die Suchtgefahr von Onlinespielen.
Ich erinnerte mich an einen Artikel im
Time Magazine
, der sich mit der Evolution von Produkten beschäftigte. Die Dinge, die wir schaffen, manipulieren uns, damit wir sie vervielfältigen, hatte es dort geheißen. In einem Darwin’schen
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