Glanz
wieder gegangen. Eine Nachricht hatte sie nicht hinterlassen. Ich fragte eine der Schwestern nach Maria, doch die war immer noch krankgemeldet. Ich beschrieb ihr Emily, aber sie konnte sich nicht erinnern, sie heute gesehen zu haben.
Verzweifelt überlegte ich, was ich tun sollte. Vielleicht hatte ich Glück, und sie verspätete sich ebenfalls. Doch als sie um sieben Uhr immer noch nicht erschienen war, wusste ich, dass sie nicht mehr kommen würde. Sie hatte mir ja auch nichts dergleichen versprochen.
Ich blieb eine weitere Stunde bei Eric und hielt seine Hand. Irgendwann wurde mir klar, dass ich Sinnvolleres tun konnte, als hier herumzusitzen.
Ich fuhr wieder nach Hause und startete das Computerspiel. So lernte ich bald, geschickter mit der Maus umzugehen, und merkte, dass es auf das richtige Timing ankam: Man konnte beispielsweise die Riesenschildkröten nur |86| dann ernsthaft verletzen, wenn sie ihren langen Hals aus dem Panzer streckten, um zuzubeißen. Ein Rechtsklick brachte den Helden in Verteidigungsposition mit erhobenem Schild – damit konnte ich die heftigen Schwanzschläge einer gefährlichen Riesenechsenart ebenso abwehren wie die blitzschnellen Angriffe der Giftschlangen.
Besonders viel Mühe hatte ich mit einem krakenartigen Monster, das in einem der schwarzen Tümpel hauste und mit seinen acht saugnapfbewehrten Tentakeln nach meinem Helden griff. Mehrmals riss das Ungeheuer den Helden in den Tod. Dann kreisten die schwarzen Vögel über dem Tümpel, in dem das Ungeheuer mit seiner Beute verschwunden war, und krächzten frustriert. Doch ich hatte inzwischen gelernt, nach jedem erfolgreichen Kampf den Spielstand abzuspeichern. Ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich es im vierten Versuch schaffte, alle acht Arme des Kraken abzutrennen und das Vieh zu töten.
Ich sah auf die Uhr und erschrak. Es war bereits nach Mitternacht. Langsam begriff ich, wie dieses Spiel Eric in seinen Bann gezogen hatte. Ich speicherte, klappte den Laptop zu und ging ins Bett, doch das Adrenalin, das immer noch in meinem Blut war, ließ mich lange wach liegen.
Am nächsten Morgen frühstückte ich kurz und setzte das Spiel fort. Der Krake war eine Art Hauptgegner in dieser trüben Gegend gewesen, und mein Held erreichte kurz darauf den Rand der Sumpflandschaft. Doch was sich daran anschloss, war nicht viel besser: eine steinige Wüste, die mich an die graue Ebene erinnerte, durch die ich selbst geirrt war. Statt auf Felsenspinnen traf ich hier auf geflügelte Wesen mit Löwenkörpern und Adlerköpfen, auf gehörnte Minotauren, die riesige Streitäxte schwangen, |87| und schließlich auf einen einäugigen Riesen, der mich, wie zuvor der Krake, ein paar Mal tötete, bevor ich ihn schließlich bezwang.
Als ich den Zyklopen besiegte, war es bereits Nachmittag. Ich legte eine Pause ein, um mir eine Pizza in den Ofen zu schieben. Das Kämpfen in der virtuellen Welt hatte mich hungrig gemacht.
Überrascht stellte ich fest, dass mich das Spiel immer mehr in seinen Bann zog. Es war geschickt konstruiert: Jeder Sieg über ein Monster brachte »Erfahrungspunkte«. Hatte man eine bestimmte Menge davon gesammelt, stieg man in die nächste »Stufe« auf und konnte einige Eigenschaften der Spielfigur, wie Körperkraft, Geschicklichkeit, Kampfstärke oder Lebensenergie, verbessern. Auf diese Weise war ich ständig motiviert, auch den nächsten Gegner noch zu besiegen.
Nach dem Essen ging ich voller Neugier zurück an den Laptop. Der Zyklop hatte einen schmalen Pfad bewacht, der sich durch eine felsige Schlucht wand. Ich wollte unbedingt wissen, was sich am Ende des Pfades befand.
Ich griff nach der Maus – und hielt inne. Ich öffnete die Schreibtischschublade und nahm den Beutel heraus. Nachdenklich betrachtete ich die blauen Kapseln. Wäre es nicht interessant, zu erfahren, wie sie die Wahrnehmung des Spiels veränderten? Ich würde Eric viel besser verstehen, wenn ich seine Erfahrung teilte.
Andererseits brauchte ich die Kapseln, um in seine Traumwelt zu gelangen.
Ich sah auf die Uhr. Es war halb vier. Wenn ich jetzt eine Kapsel nahm, würde die Wirkung sicher noch anhalten, bis Emily kam – wenn sie kam. Außerdem waren noch fünfzehn Kapseln in der Tüte. Auf eine mehr oder weniger kam es da kaum an.
|88| Ich nahm eine heraus, drehte sie einen Moment zwischen den Fingern, ging in die Küche und spülte sie mit einem Glas Milch herunter.
Zunächst spürte ich nichts. Ich setzte mich wieder an den Laptop und steuerte
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