Glashaus
Außerdem ist ja keineswegs gesagt, dass der Abstieg mir leichter fallen wird als der Aufstieg, wie mir bei genauerem Nachdenken klar wird. Dabei muss ich die Arme zwar nicht mehr so strecken, aber den linken Ellbogen beugen, und der kommt mir inzwischen doppelt so dick vor, wie er sein sollte. Außerdem ist er heiß und pocht, sobald ich ihn anhebe …
Vor mir liegt eine weitere Plattform. Zwanzig Sprossen weiter oben, rund vierhundert Meter über dem Boden. »Was?« Wieder mal führe ich Selbstgespräche, was kein gutes Zeichen ist. Bald darauf strecke ich die rechte Hand aus: Ja, es ist tatsächlich eine Plattform.
Ohne dass ich mich genauer daran erinnern kann, wie ich hier gelandet bin, stelle ich als Nächstes fest, dass ich auf der Plattform sitze und meine Beine über dem Abgrund baumeln. Offenbar habe ich wieder ein kurzes Blackout gehabt. Als mir das bewusst wird, schaudert es mich, und mir erstarrt das Blut in den Adern.
Ein Blick in meine Umgebung zeigt mir, dass diese Plattform genauso aussieht wie die vorherige, einschließlich der zwei Meter hohen Tür in der Wand, an der auch hier ein Stellrad angebracht ist. Und das heißt, dass ich entweder ein Scheißpech habe oder … Na ja, ich kann die Tür zumindest mal ausprobieren. Falls sie sich nicht öffnen lässt, kann ich mich hier wenigstens ausruhen. Und danach entweder weiter nach oben steigen oder zurück nach unten. Ich kann ja eine Münze werfen. Ich glaube wirklich nicht, dass ich es noch weiter hinauf schaffe, solange meine geschändeten Muskeln sich nicht ein bisschen erholt haben. Und ich habe nichts zu essen und zu trinken dabei - also deutet alles in die Richtung abwärts statt aufwärts. Ich muss zurück nach unten, zurück in die Untiefen des kleinen totalitären Fantasiegebildes, das Yourdon sich ausgedacht hat.
Es sei denn, ich lasse die Leiter los.
Oder die Tür lässt sich öffnen.
Ich genehmige mir eine Pause von einer Kilosekunde, ehe ich mich mit der Tür befasse. Als ich mit einer Hand am Stellrad drehe, setzt es sich, obwohl die lange nicht mehr benutzten Dichtungsringe quietschen, reibungslos in Bewegung, schwingt vom Türrahmen weg, gleitet zur Seite, und die Tür geht auf. Aus dem, was dahinter liegt, werde ich überhaupt nicht schlau.
Der Fußboden ist flach und leicht aufgeraut. Das graue Noppenmuster ist zwar typisch für einen rutschfesten Bodenbelag, doch die Grundstruktur besteht aus einer Penrose-Parkettierung. Vermutlich ist ein mobiler Assembler auf einer vorher festgelegten optimierten Route, bei der es keine Überschneidungen gab, durch das Innere dieses riesigen Zylinders gekrochen und hat die Parkettierung dabei produziert und gelegt. Über meinem Kopf befindet sich ein graues Dach, das sich in der Ferne krümmt und mit der nach oben gekehrten Halbkugel des Horizonts verschmilzt. Spitze Diamantstäbe, die sich vom Boden bis zum Dach erstrecken, grenzen diesen Raum vom Himmel ab. 1 Die Tür, durch die ich soeben getreten bin, ist unten in einen dieser Stäbe eingelassen, die riesig und in weitem Abstand voneinander installiert sind.
Wahrscheinlich ist das hier ein Zwischenstockwerk, eine Trägerkonstruktion zwischen bewohnten Ebenen. Oder eine Ebene, die nicht an das weit verzweigte Netzwerk von T-Toren angeschlossen wurde. Das würde erklären, weshalb hier keine erdähnlichen, lebensfreundlichen und für Menschen erträglichen Bedingungen herrschen. Ich würde darauf tippen, dass ich geradewegs zu Yourdons Sicherheitsgürtel hinaufgestiegen bin, zu einer Ebene, die absichtlich so konzipiert wurde, dass sie die Endstation vor dem offenen Raum und dem Vakuum bildet. Wäre ich hinuntergestiegen, hätte ich … Auf was wäre ich dort gestoßen? Vielleicht auf die Ebene, auf der die Versuchsleiter leben und an einer verbesserten Version von Curious Yellow arbeiten. Doch genauso gut könnte auch diese Ebene ins Vakuum führen.
Meine Knie kommen mir so weich und wabbelig wie Gummi vor. Völlig erschöpft lehne ich mich gegen die Außenwand der speichenförmigen Röhre, durch die ich gerade geklettert bin, und blicke, fast fünfhundert Meter über der Bodenfläche, zur Decke hinauf. Dabei fällt mir auf, wie gering deren Krümmung und wie weitläufig diese Realitätsebene ist. Hier gibt es sogar Wolken, die sich an der Spitze einiger Diamantstäbe gesammelt haben. Die Luft ist leicht dunstig und riecht nach trockener Hefe. Seltsame einfarbige Bodenerhebungen wirken aus der Ferne wie Hügel oder Gebirgskämme:
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