Glashaus
auseinandergebrochen ist, beziehen sich längst nicht alle der winzigen Nachfolgegebilde auf einen gemeinsamen Zeitrahmen. Und die Zeitverschiebungen erleichtern das Untertauchen. Falls ein Emigrant, der vom Gemeinwesen A ins Gemeinwesen B überwechselt, Pech hat, kann es passieren, dass bei seiner Ankunft in B eine andere Persönlichkeit in seinem Körper steckt, auch wenn alle Identitätsmerkmale scheinbar erhalten geblieben sind. Wenn die Firewalls der eigenen A-Tore einander nicht bedingungslos vertrauen, hat man ein riesiges Problem.
Um diese Dinge durchzusprechen, haben wir uns in einem schäbigen Kabuff im MilSpace verschanzt, anstatt unseren normalen Tätigkeiten in der Außenwelt nachzugehen.
»Ganz besonders werden uns die Verräter zu schaffen machen, die zurückkehren«, fährt Sanni fort. »Nicht die Einzelnen, die sich nur verstecken wollen. Von denen werden sich die meisten bedeckt halten und sich eine neue Identität zulegen. Ihre Erinnerungen an den Krieg werden sie einfach löschen lassen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Jede Menge hundsgemeiner Verbrecher wird denken: He, für die Zukunft kann ich ja jede beliebige Identität annehmen! Und wir stehen dabei vor einem Dilemma, denn wir müssen uns fragen: Hat es wirklich Sinn, einen früheren Kollaborateur zu verfolgen, wenn er sich nicht mal mehr daran erinnern kann, was er verbrochen hat? Meiner Meinung nach sollten wir die Sache bei einzelnen Überläufern am besten auf sich beruhen lassen. Anders bei den organisierten Gruppen, denn die werden uns wirklich Kopfzerbrechen machen. Falls sie weiterhin in organisierten Strukturen arbeiten und an ihren Erinnerungen festhalten, könnten sie versuchen, Curious Yellow erneut in Umlauf zu bringen. Vielleicht gelingt es uns, einige von ihnen anhand einer Analyse des Datenverkehrs dingfest zu machen, aber was ist, wenn sie irgendwo etwas installieren, das ihre Identitäten neu zusammenmischt? Wenn es ihnen gelingt, jede Menge unbelasteter Identitäten in ein isoliertes Gemeinwesen zu locken, um sie mit denen von Verbrechern zu vermengen? Klar, die Körper begeben sich in die Assembler und kommen auch wieder heraus. Aber wie können wir feststellen, was in der Zwischenzeit geschieht? Falls solche Gruppen die Firewalls kontrollieren, können sie mit unzähligen Tricks arbeiten. Mit Täuschungstricks.«
»Also müssen wir nach solchen Dingen Ausschau halten«, schlägt Al vor.
Ich sehe ihn scharf an und zwinge mich dazu, ein paar Sekunden verstreichen zu lassen, ehe ich den Mund aufmache. Als Auffassungsvermögen ist nicht immer das schnellste. »Über solche Möglichkeiten verfügt doch jedes moderne Gemeinwesen«, entgegne ich ihm. »Und wir sind noch längst nicht überall Herr der Lage. Bis jetzt haben wir die Koordinationsfähigkeit von Curious Yellow lediglich in den Netzwerken gebrochen, mit denen wir direkt kommunizieren. Wenn wir eine grundlegende Säuberung durchführen wollen, müssen wir viel weiter gehen.«
»Na und?« Da Al mangels eines Gesichts nicht lächeln kann, signalisiert er seine Belustigung mittels einer Glyphe. »Das ist doch ein laufender Prozess. Vielleicht solltet ihr mal darüber nachdenken, wie ihr mit den Verbrecherbanden verfahren wollt, wenn ihr sie erst mal ausgehoben habt?«
14
im krankenhaus
ICH HÖRE TROCKENHEIT, habe einen blauen Geschmack im Mund und eine Erektion. Als ich mir über die Lippen lecke, stelle ich fest, dass mein Mund wie ausgedörrt ist und nach etwas Totem schmeckt. Im Übrigen habe ich gar keine Erektion, weil mir dazu der Penis fehlt. In Wirklichkeit habe ich eine ganz üble … Amnesie, wie ich merke, und öffne die Augen.
Ich liege zwischen frisch gestärkten, steifen weißen Laken und blicke auf eine weiße Wand, in die merkwürdige Anschlüsse eingelassen sind. Blassgrüne Vorhänge schirmen mein Bett zu beiden Seiten hin ab. Jemand hat mich in ein seltsames Gewand gesteckt, das hinten von oben bis unten geschlitzt ist. Auch das Gewand ist grün. Das muss das Krankenhaus sein, denke ich, schließe die Augen und versuche, nicht in Panik zu geraten. Wie bin ich hierhergekommen? Ich schaffe es nicht, die Panik zu unterdrücken, und versuche keuchend, mich aufzusetzen.
Einige Sekunden später legt sich das Schwindelgefühl, und ich versuche es noch einmal. Mein Herz rast, mir ist übel, und mein Kopf schmerzt hinter der Stirn; ich fühle mich so wabbelig wie eine Qualle, und die Panik hat längst wieder Oberhand. Wer hat mich
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