Glashaus
in dem ein Mensch aufrecht stehen kann. Er führt von der Leiter weg, zwei Meter in die Wand hinein, bis zu einer dicken, leicht gewölbten, drucksicheren Tür. Auch dieser Durchgang ist mit einem Stellrad ausgestattet. Ich bin angekommen! Vor Freude würde ich am liebsten tanzen, nur fühlen sich meine Arme so an, als würden sie gleich abfallen. Ich betrete den Tunnel, schalte den Strahler der Taschenlampe auf Kerzenstärke zurück, setze mich, lehne mich gegen die Wand, schließe die Augen und zähle bis hundert. Ich finde, das habe ich mir verdient. Außerdem weiß ich ja nicht, was mich auf der anderen Seite der Tür erwartet.
Meine Arme sind zwar wabbelig wie Gummi, doch ich wage es nicht, hier länger zu verweilen. Nach zwei Minuten zwinge ich mich zum Aufstehen und inspiziere das Stellrad. Es sieht funktionstüchtig aus, aber als ich es zu drehen versuche, will es nicht nachgeben. »Scheiße«, sage ich laut. Jetzt sitze ich wirklich in der Tinte. Vielleicht klappt es mit einem Hebel? Mir fällt die Taschenlampe ein, deren Strahler in einen großen Stab aus Aluminium eingelassen ist. Also stecke ich sie durch die Radspeichen, lehne mich mit meinem vollen Gewicht dagegen, drücke sie gegen die Wand und setze meine ganze Kraft dazu ein, das Rad zu bewegen.
Nach zwei Minuten muss ich mir eingestehen, dass das Rad nicht nachgeben wird. Mir fällt ein, dass die Erbauer dieses Habitats ja sehr darauf geachtet haben, alles pannensicher zu machen. Was, wenn sich das Rad nur deswegen nicht dreht, weil auf der anderen Seite der drucksicheren Tür reines Vakuum lauert? Entweder hat sie sich aufgrund eines zu hohen Druckgefälles selbst verriegelt, oder sie stellt schon so lange die Grenze zum Vakuum dar, dass sie zugeschweißt wurde. »Scheiße«, murmele ich noch einmal. Vielleicht ist das eine weitere hinterhältige Sicherungsmaßnahme, die Yourdon und Fiore ausgeheckt haben. Was nützt es mir, bis zu einem Durchgangstunnel zu gelangen, wenn alle anderen Ebenen offen im Raum liegen? Wobei ich natürlich voraussetze, dass Yourdon und Fiore von diesen Zugangsschächten wissen.
Während ich mir den Schweiß von der Stirn wische, lehne ich mich gegen die Wand. »Nach oben oder nach unten?«, frage ich laut, ohne eine Antwort zu erhalten. Unten muss es zumindest noch eine weitere, mit Sauerstoff ausgestattete Ebene geben. Oben … nun ja, befindet sich möglicherweise gar nichts. Oder auch ein ganzes verdammtes orbitales Habitat, von dem die Verbrecher nichts wissen. Ich könnte auf einem Boulevard im alten paradiesischen Paris herauskommen oder hinter einer Brasserie in Zhang Li. Falls ich Glück habe. Falls ich mir solche Orte nicht nur einbilde.
Ich befestige die große Taschenlampe wieder an meiner Gürtelschlaufe und gehe zurück zur Leiter. Wenn ich nach weiteren tausend Sprossen nicht irgendwohin gelange, werde ich meinen Fluchtplan überdenken müssen. Insgesamt zweitausend Sprossen bedeuten fast einen halben Kilometer. Hätte ich gewusst, dass mir ein solcher Aufstieg bevorsteht, hätte ich mir Kletterausrüstung besorgt, eine Seilwinde und auch ein Seil, das ich um mich selbst hätte schlingen können, denn dann hätte ich auf der Leiter auch mal ausruhen können.
Nachdem ich mir kurz Bergsteigerausrüstungen und Fahrstuhlkabinen ausgemalt habe, greife ich nach der nächsten Sprosse und setze die Klettertour fort.
Nach weiteren neunhundert Sprossen bin ich mir fast sicher, dass dieser Aufstieg mich umbringen wird. Meine Arme brüllen vor Schmerz, und mein linker Oberschenkel droht inzwischen zu verkrampfen. Während ich kurz stehen bleibe, um Luft zu holen, hämmert mein Herz. Es ist so, als wäre ich wieder auf der Klippe. Dieses Habitat muss einen Radius von mehreren Kilometern haben - die Schwerkraft hier kommt mir fast genauso vor wie an meinem Ausgangspunkt. Ich befinde mich in einem Schacht, in dem Schwerkraft und Atmosphäre der alten Erde herrschen. Die letztendlich erreichte Fallgeschwindigkeit - die Beschleunigung durch Gravitation und das Abbremsen durch Luftreibung halten sich dabei die Waage - dürfte hier achtzig Meter pro Sekunde betragen. Falls ich loslasse, wird die Corioliskraft mich mit zweihundert Stundenkilometern gegen die Leiter drücken und wie eine Käsereibe zermahlen, sodass von mir nur glitschige rote Schmiere übrig bleibt. Natürlich kann ich weiterklettern, klar, aber wie soll ich, falls nötig, den Abstieg bewältigen, wenn ich vom Aufstieg bereits völlig erschöpft bin?
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