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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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bestimmte Dinge erforscht. Ich nehme an, dass der Begriff in der echten dunklen Epoche ebenfalls in diesem Sinne verwendet wurde, denn damals wusste niemand so recht, wie sich selbst replizierende Organismen funktionieren, sodass die Arbeit auch Aspekte der Forschung hatte. »Ich glaube, der Doktor soll herausfinden, was bei mir nicht stimmt, und es reparieren. Vorausgesetzt, sie haben hier unten im Keller nicht einfach einen Assembler für medizinische Zwecke …« Ich greife wieder fester nach seiner Hand, denn gerade ist mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf geschossen. Falls sie über ein A-Tor für medizinische Zwecke verfügen, wird es dann nicht mit Curious Yellow infiziert sein? »Du darfst nicht zulassen, dass sie mich da hineinstecken!«
    »Hineinstecken? In was? Was ist los, Reeve? Hast du wieder einen Aussetzer?«
    Um mich herum wird alles grau. Als er sich ganz nahe über mich beugt, flüstere ich ihm »* * *« ins Ohr. Und dann …

    Die Verzweiflung treibt uns dazu, das Unumgängliche in Angriff zu nehmen.
    Seit der Stabsbesprechung mit Al und Sanni sind zweihundert Megs vergangen und es hat sich vieles verändert. Ich selbst, zum Beispiel, denn mein Erscheinungsbild hat inzwischen alles Militärische verloren, genauso wie Sannis. Jetzt sind wir Zivilisten, Elementarteilchen mit militärischer Erfahrung, freigesetzt in das um sich greifende Chaos des Wiederaufbaus, das mittlerweile die Zukunft der Republik Is darstellt.
    Ich bin nicht daran gewöhnt, wieder als Mensch zu agieren, ob in echt menschlicher oder veränderter Gestalt. Bestimmte Teile meines Ichs sind mir abhandengekommen. Als der Krieg ausbrach und mich für die Zeitspanne fast einer Generation auf dem MAE festhielt, blieb mir nur das, was ich persönlich mit mir herumtrug oder im Kopf hatte. Als ich mich später dem Militär anschloss, musste ich auf gewisse Bestandteile meiner Persönlichkeit verzichten. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, wieso das in allen Fällen nötig war. Manches kommt mir zwar plausibel vor (wenn man sich im Krieg befindet, muss man die Vorbehalte dagegen unterdrücken, dem Feind wehzutun und ihn zu verletzen), doch in anderen Aspekten dieser Selbstaufgabe kann ich weder Sinn noch Zweck entdecken. Nach dem, was ich mir während des Aufenthalts auf der Grateful for Duration notiert habe, war ich früher über eine lange Zeit hinweg sehr an der Barockmusik des vorindustriellen Zeitalters interessiert. Doch jetzt kann ich mich nicht einmal mehr an Bruchstücke irgendwelcher Melodien erinnern. Ein weiteres Beispiel: Früher war ich verheiratet und hatte auch Kinder. Doch jetzt weckt diese Zeit weder Erinnerungen noch Gefühle in mir, und das empfinde ich als äußerst seltsam. Vielleicht erfolgte die Auslöschung in Reaktion auf meinen Kummer, vielleicht auch nicht. Aber jetzt, wo ich aus dem Militärdienst ausgeschieden bin, stelle ich zu meiner Verblüffung fest, dass ich mich außerhalb jeder Reaktionsmasse bewege - als freischwebendes Teilchen, das - aller Bindungen ledig - eine Fluchtlinie eingeschlagen hat. Nur mein neuer Job gibt mir einen gewissen Halt.
    Den Linebarger Cats hat das Bündnis bedeutende Vermögenswerte beschert. Überrascht registriere ich einen Kontostand, der so hoch ist, dass ich, bei vorsichtigem Umgang mit dem Geld, womöglich nie wieder arbeiten muss - jedenfalls nicht in den nächsten Gigasekunden. Offenbar zahlen sich Kriegshandlungen aus, wenn man sich auf der Seite der Sieger befindet und es schafft, im Kampf nicht den Verstand zu verlieren.
    Als ich MilSpace verließ (ein komplizierter Vorgang, an dem zahlreiche anonyme Remix-Netzwerke und einseitig aktive Zensurtore beteiligt waren, denn vor meiner Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft mussten ja erst meine militärischen Module beseitigt werden), nahm ich bei der Neumontage meiner Persönlichkeit die Identität eines jungen Playboys in der Kognitiven Republik Lichtenstein an. Es spricht einiges für eine Existenz als Playboy, insbesondere dann, wenn man mehrere Hundert Megasekunden ohne Genitalien verbracht hat.
    Lichtenstein ist eine ebenso lebendige wie zynische Künstlerkolonie. Hier leben Satiriker, die so hochkultiviert sind, dass sie fast schon wieder in die Barbarei zurückgefallen sind. Eine der hiesigen Gepflogenheiten besteht darin, Lichtfilter für die Augen zu benutzen, die alles ringsum wie düster gestrichen erscheinen lassen, während unsere Körper farbig hervortreten. Auf diese Weise nähert sich das

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