Glashaus
der Dusche aufhören und oben das Licht ausgeht. Später schleiche ich mich auf Zehenspitzen zurück ins Bett, liege da und grüble, bis es fast Tag ist, und frage mich dabei, welcher Teufel mich geritten hat. Letztendlich beschließe ich, ihm gegenüber nie wieder sexuelle Annäherungsversuche zu machen, bis ich Gelegenheit hatte, seiner imaginären Geliebten vor seinen Augen ins Gesicht zu spucken. Irgendwann schlafe ich ein.
Am nächsten Tag rühre ich mich nicht aus dem Bett, bis Sam zur Arbeit gegangen ist. Gleich nach dem Aufstehen rufe ich die Handelskammer an. Der Zombie, der meinen Anruf entgegennimmt, klingt so, als wäre er nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet, sagt aber zu, mir am nächsten Morgen ein Taxi zu schicken. Anschließend gehe ich nach draußen, jogge auf der Straße hin und her, bis ich erschöpft bin - was inzwischen viel länger dauert als früher - und dusche danach. Den Rest des Tages verbringe ich in der Garage und versuche, weiter an der Armbrust zu arbeiten, aber es läuft nicht gut. Mittlerweile frage ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe machen soll. Schließlich habe ich ja nicht vor, jemanden damit zu erschießen, oder doch?
Ich hinterlasse Sam eine halb aufgetaute Pizza und einen Zettel mit der Anleitung zum Aufbacken. Als ich wieder ins Haus zurückkehre, ist es bereits dunkel. Da Sam sich im Wohnzimmer vor dem laufenden Fernseher verschanzt hat, kann ich mich unauffällig nach oben schleichen und ins Bett gehen, ohne ihm begegnen zu müssen. Jetzt, wo wir einander ausweichen, ist das eine leichte Übung.
Wieder falle ich in unruhigen Schlaf. Diesmal habe ich einen anderen schlimmen Traum, der nicht so plastisch ist wie der Albtraum vom Schlachthaus, aber in mancher Hinsicht noch verstörender. Es geht um folgendes Szenario: Stell dir vor, du wärst ein Detektiv oder irgendein anderer Ermittler und suchtest nach Leuten, bösen Leuten, die sich im Dunkeln verbergen. Diese Menschen haben entsetzliche Verbrechen begangen, aber jedermanns Erinnerungen so verändert, dass niemand mehr weiß, was sie getan haben oder wer sie sind. Auch du selbst weißt nicht, was sie getan haben oder wer sie sind, hast aber die Aufgabe, sie aufzuspüren und so zur Rechenschaft zu ziehen, dass weder sie noch sonst jemand je vergessen wird, was sie verbrochen haben und welch schreckliche Auswirkungen das hatte. Als Ermittler streifst du auf der Suche nach Hinweisen durch zwielichtige Gemeinwesen, weißt aber nicht, wer du selbst bist und warum man ausgerechnet dich mit dieser Mission beauftragt hat. Nach allem, was du weißt, könntest du sogar selbst einer der Verbrecher sein, denn sie haben dafür gesorgt, dass jeder vergessen hat, wer er ist und was er getan hat. Möglich, dass das sogar für sie selbst gilt. Du könntest eines Verbrechens schuldig sein, das so furchtbar ist, dass es keinen Namen dafür gibt, doch niemand erinnert sich daran. Und plötzlich musst du feststellen, dass die zwingende Logik der Ermittlung dich dahin bringt, dich selbst zu verhaften und dem Gericht einer höheren Gewalt zu überstellen. Also wird dir der Prozess gemacht, und du wirst für ein Verbrechen verurteilt, das du weder verstehst noch erinnerst. Und die Strafe liegt jenseits jeden menschlichen Begriffsvermögens, denn sie besteht darin, dass du erneut durch zwielichtige Gemeinwesen streifen musst, ein Gespenst, das fast aller Erinnerungen beraubt ist. Du weißt nur, dass an dir schwache Spuren einer unauslöschlichen Besudelung haften, Spuren der Erbsünde. Und du bist hier, weil man dich ausgeschickt hat, nach dem Drahtzieher entsetzlicher Verbrechen zu suchen, denn damit musst du deine früheren Missetaten sühnen. Du hast dich auf seine Fährte gesetzt. Eines Tages spürst du ihn auf und streckst die Hand aus, um ihn festzunehmen. Und in diesem Moment stellst du fest, dass du auf den eigenen Hinterkopf blickst …
Schwitzend wache ich mitten in der Nacht auf. Mir ist übel, und mein Herz wummert, und diesmal ist kein Sam da, um mich zu trösten. Einen Moment lang spüre ich Trotz und Wut, weil er nicht da ist, doch gleich darauf denke ich: Was habe ich dem einzigen Freund, den ich hier habe, nur angetan? Und ich wälze mich herum und heule bittere Tränen in mein Kissen, bis es endlich Morgen wird.
Doch am nächsten Tag trete ich meine neue Stelle an.
8
die frage von nachwuchs
EINE KNAPPE HALBE STUNDE, nachdem Sam zur Arbeit gegangen ist, bringt mich das Taxi zur Handelskammer.
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