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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Ethik-Ausschusses einen Eimer feuchten Kehricht wert ist. Im Extremfall könnten wir Frauen alle schwanger werden und Kinder gebären. Dann wären die Versuchsleiter später - bei zwanzig Scharen, zweihundert Personen, hundert Ehepaaren - für die Aufzucht von rund hundert Babys verantwortlich. Und keiner dieser neuen Menschen hätte sein Einverständnis dazu gegeben, in der simulierten Umwelt der dunklen Epoche aufzuwachsen, ohne Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialisation. Jeder verantwortungsbewusste Ethikausschuss würde sich an den Kopf fassen, wollte man ihm ein solches Experiment unterjubeln. Deshalb vermute ich, dass es mit der Ethik dieses Ethik-Ausschusses nicht weit her sein kann - sofern ein solcher Ausschuss überhaupt existiert.
    All das geht mir durch den Kopf, während Mr Harshaw unseren Fahrer, einen Zombie, anweist, uns zur Stadtbücherei zu bringen. Die Bücherei liegt in einem Ortsteil, in dem ich noch nicht gewesen bin, und in derselben Häuserzeile wie das Rathaus und die Polizeiwache, auf die mich Mr Harshaw ausdrücklich hinweist. »Polizeiwache?«, frage ich verständnislos.
    »Ja, das Quartier der Polizei.« Er sieht mich so an, als wäre ich leicht bekloppt.
    »Und ich dachte, die Verbrechensquote sei hier so niedrig, dass man gar keine ständigen Sicherheitskräfte braucht.«
    »Ja, jetzt noch«, erwidert er mit einem Lächeln, das ich nicht deuten kann. »Aber so bleibt es ja nicht.«
    Die Bücherei ist ein flaches Backsteingebäude mit einer Glasfassade, die in einen offenen Empfangsbereich übergeht. Durch Drehkreuze gelangt man in zwei große Räume voller Regale. Auf allen Regalen, und es gibt jede Menge davon, sind Bücher aufgereiht - gebundene Sammlungen nicht interaktiven Papiers. Tatsächlich habe ich im ganzen Leben noch nie so viele Bücher gesehen. Eigentlich ist das ja eine Ironie des Schicksals. Meine Netzverbindung, würde sie funktionieren, könnte mir unverzüglich das Millionenfache an Informationen vermitteln. Doch in dieser an Informationen armen Gesellschaft, an die wir gebunden sind, stellen die Reihen toter Bäume den ganzen Reichtum menschlichen Wissens dar. Offenbar sind uns nur statische, primitive Kritzeleien zugänglich. »Wer darf das lesen?«, frage ich.
    »Ich überlasse es Janis, Ihnen die Prozeduren genauer zu erklären«, erwidert Mr Harshaw und streicht sich über die glänzende Schädelplatte. »Aber jeder, der möchte, kann hier Bücher ausleihen, sich Bücher aus der öffentlichen Ausleihe ausborgen. In der Abteilung mit den Nachschlagewerken ist es ein bisschen anders. Außerdem gibt es auch noch eine private Sammlung.« Er räuspert sich. »Deren Bestände sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, und Sie dürfen sie niemandem ausleihen, der zur Benutzung nicht autorisiert ist. Das klingt, wie ich anmerken möchte, dramatischer, als es in Wirklichkeit ist. Nur halten wir einen Großteil der Dokumentation für das Projekt auf Papier fest, damit wir die Regeln des Experiments nicht dadurch verletzen, dass wir moderne Instrumente des Wissensmanagements einführen. Und diese Papiere müssen wir irgendwo lagern, wenn sie nicht in Gebrauch sind, deshalb nutzen wir dazu die Bücherei.« Er hält mir die Tür auf. »Am besten, wir suchen jetzt Janis, ja? Danach essen wir gemeinsam zu Mittag. Dabei können wir auch besprechen, ob Sie hier arbeiten möchten, und, falls ja, wie Ihre Arbeitsbedingungen und das Gehalt aussehen. Wenn Sie die Arbeit wollen, können wir auch gleich festlegen, wann Sie anfangen.«

    Janis ist mager und blond; ihr Gesicht wirkt abgehärmt und sorgenvoll, und ihre langen, knotigen Hände flattern wie gefangene Insekten, als sie mir bestimmte Dinge erklärt. Nachdem ich bis jetzt Jens Intrigen aushalten musste, wirkt Janis wie ein frischer Wind.
    Am ersten Tag komme ich früh, doch Janis ist bereits da. Sie winkt mich in einen schäbigen kleinen Personalraum hinter einem der Bücherregale, den ich gestern bei der Führung dort niemals vermutet hätte.
    »Ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, sagt sie und faltet die Hände. »Tee? Oder vielleicht Kaffee? Wir haben beides da.« In der Ecke steht ein elektrischer Wasserkocher, den sie einschaltet. »Allerdings wird eine von uns beiden bald mal Milch besorgen müssen.« Sie seufzt. »Das hier ist der Aufenthaltsraum des Personals. Mittags, wenn keine Besucher da sind, kannst du deine Pause entweder hier verbringen oder essen gehen. Von zwölf bis

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