Glasklar
»Aber daraus, dass ich mitten in der Nacht hier so hohen Besuch kriege, darf ich wohl schließen, dass Sie nicht einzig gekommen sind, um mir dies mitzuteilen.«
Kauderer gab sich gelassen. »Frau Maller und ich«, fuhr er fort, »wir haben natürlich im Laufe des Tages auch recherchiert, nachdem sich die Gerüchte um diesen Heidenreich und diesen Lechner immer abenteuerlicher angehört haben.«
»Ganz so naiv sind wir nämlich auch nicht«, fügte Maggy an, womit Häberle schlagartig an das Gespräch vom Nachmittag erinnert wurde.
»Das hab ich auch keinesfalls behauptet«, stellte der Chefermittler klar. »Ich hab gesagt, dass ich manchmal staune, für wie naiv ich eingeschätzt werde. Das ist ein kleiner Unterschied.« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er dies nicht ganz so ernst verstanden wissen wollte. Häberle konnte allein durch die Art und Weise, wie er sich äußerte und dabei sein Gegenüber anblickte, seine Worte entschärfen.
»Sie ahnen selbst, wie lang manchmal die Kommunikationswege bei der Polizei sind«, gab sich Kauderer versöhnlich.
Der Chefermittler wollte sich damit nicht abfinden. »Beim Hasendiebstahl klappt’s manchmal vorzüglich mit der Kommunikation, aber je diffiziler etwas wird und je mehr ›Häuptlinge‹ dran beteiligt sind, desto schwerer tun sich die Leute an der Front.«
Kauderer kannte Häberles Einstellung zu den Strukturen innerhalb der Polizei längst, weshalb er keinen Anlass sah, jetzt wieder eine Grundsatzdebatte zu beginnen. Außerdem konnte er ihn sehr gut verstehen.
»Was Frau Maller und ich Ihnen sagen wollen, soll Ihnen helfen, die Beziehungen zwischen Heidenreich und Lechner besser zu verstehen«, erklärte der PD -Leiter sachlich.
»Ich bitte darum. Ich geh inzwischen davon aus, dass Heidenreich ein verdeckter Ermittler war und Lechner zum eher wohl ferneren Dunstkreis der El Kaida zu zählen ist. Reingeraten über die Terrorszene der 70er-Jahre – wohl infolge seines Bruders, den man Flippi nannte und den Heidenreich in diesem Lagerhaus in Esslingen erschossen hat. Dass der Schütze Heidenreich war, ist ihm wohl erst jüngst aufgegangen.«
»So hat dies auch der Staatsschutz ermittelt«, bestätigte Kauderer, während Maggy noch immer schwieg. »Heidenreich war als verdeckter Ermittler zunächst im Bereich der Wirtschaftskriminalität tätig – deshalb auch sein Job bei der Steuerfahndung, der ihm alle Freiheiten bot. Im Rahmen einer groß angelegten Ermittlungssache gegen eine internationale Geldwäscherbande ist er mit dem Umfeld der Neu-Ulmer Terrorszene in Berührung gekommen. Das war ein paar Monate nach dem 11. September 2001. In den Akten finden sich Aufzeichnungen von ihm, wonach langfristig ein großer Anschlag im süddeutschen Raum vorbereitet werden sollte. Zunächst gab es keinerlei Anhaltspunkte, was gemeint sein könnte.« Kauderer sprach so langsam, als doziere er vor Studenten der Polizeihochschule. Häberle schielte auf seine silbern glänzende Armbanduhr, was der PD -Leiter bemerkte und richtig deutete. »Um es kurz zu machen«, bemerkte er, »Heidenreich hat davon Wind bekommen, dass es mit ›Stuttgart 21‹ zusammenhing – diesem Bahnprojekt, von dem kein Mensch so richtig weiß, wer es letztendlich bezahlen soll.«
Jetzt schaltete sich Maggy ein: »Gemeint war wohl nicht der geplante unterirdische Bahnhof in Stuttgart, sondern die weitere Trassenführung der neuen Schnellbahnstrecke bis Ulm – also wohl insbesondere der Tunnel hinauf zur Albhochfläche.«
»Den Ministerpräsidenten hätte die Sache zum Zittern bringen sollen«, entsann sich Häberle an eine Aussage.
»Wie darf ich das verstehen?«, zeigte sich Kauderer überrascht.
»Heidenreich soll noch am Samstagabend im Kreise seiner Klassenkameraden gesagt haben, er werde Dinge aufdecken, die sogar den Ministerpräsidenten zum Zittern bringen würden.«
»Er hat manchmal zu viel geschwätzt«, meinte Kauderer. »Steht auch in den Akten. Er konnte in bestimmten Situationen reden, ohne ein Ende zu finden. Keine sehr gute Eigenschaft für einen VE – zumindest nicht in gewissen Situationen.«
»Dass ein Ministerpräsident ins Zittern kommt, wenn er erfährt, dass seine geliebte Bahnstrecke schon im Vorfeld ins Visier von Terroristen gerät, lässt sich nachvollziehen«, betonte Maggy. »Auch wenn man Heidenreichs Erkenntnisse wohl nicht ganz so ernst nahm, wie er es gerne dargestellt hat. Denn wie wollen Sie denn beim Bau eines solch gigantischen Projekts
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