Glaub an das Glueck, Annabelle
hinterherschaute.
Annabelle hatte kaum mehr als ein Dutzend Fotos geschossen und war noch dabei, das frühe Morgenlicht auszutesten, als sie ihn zufällig im Stall getroffen hatte. Die letzte Person, der sie momentan begegnen wollte.
Stefano!
Er hatte sie in ihrer schlimmsten Verfassung gesehen, gefangen in dem immer wiederkehrenden grauenhaften Albtraum, der sie auch nach dem Aufwachen noch stundenlang wie ein klebriges Spinnennetz umfing. Ganz abschütteln konnte sie ihn nie, deshalb hatte sie gelernt, damit zu leben.
Bitte schlag sie nicht! Hör auf! Hör doch endlich auf …
Die hellen Schreie ihrer jüngeren Brüder mischten sich in ihrer Erinnerung mit den rhythmischen Schlägen der Reitpeitsche, die ihren Körper und ihr Gesicht zerfetzten. Zusammengerollt wie ein Ball lag sie am Boden, zu schwach und entsetzt, als dass sie selbst um Gnade hätte bitten können. Ihr betrunkener Vater über ihr, der sie erbarmungslos züchtigte. Es war, als feuerte ihn das ängstliche Flehen der Jungen nur noch an.
„Lauft weg!“, hatte sie Sebastian und Nathaniel mit letzter Kraft zugerufen, aus Angst, sie würden auch noch ins Visier ihres brutalen Erzeugers geraten.
Und dann war plötzlich ihr ältester Bruder Jacob wie ein dunkler Racheengel in die riesige Eingangshalle von Wolfe Manor gestürzt. Mit seinen achtzehn Jahren war er bereits so groß und stark wie sein Vater, den er mit einem wütenden Aufschrei angriff und mit einem gezielten Fausthieb zu Boden streckte. Annabelle sah ihn wie in Zeitlupe fallen. Das hässliche Geräusch, mit dem sein Schädel auf die unterste Treppenstufe traf, wo das gewalttätige Leben von William Wolfe endete, hallte ihr noch heute in den Ohren.
Das letzte Bild in ihrem Albtraum war der geschockte Ausdruck in den Augen ihres Vaters. Sie trug keine Schuld an seinem Tod, das sagte sich Annabelle immer wieder, aber ganz glauben konnte sie es nicht. Er hatte in ihre Richtung geschaut, als er fiel, hasserfüllt und vorwurfsvoll. Wann immer sie aus dem furchtbaren Traum hochschreckte, fühlte sie sich schuldig, verzweifelt und entsetzlich einsam.
Als sie in der letzten Nacht die Augen geöffnet hatte, hatte sie Stefanos kräftige Arme um sich gespürt und an seiner warmen, nackten Brust gelegen. Dort fühlte sie sich sicher und schlief sogar irgendwann wieder ein, weil sie instinktiv wusste, dass ihr nichts geschehen konnte, solange er an ihrer Seite war.
Im Morgengrauen wachte sie auf, und Stefano war gegangen. Es musste ihr ungeschminktes Gesicht gewesen sein, das ihn von ihr fortgetrieben hatte.
Du bist hässlich unter deinem Make-up, Annabelle. Ein Monster!
Sie war aufgestanden, hatte sich geduscht, das Haar zu einem strengen Knoten hochgesteckt und mit zitternden Fingern das schützende Camouflage-Make-up aufgetragen. Da sie Stefano auf keinen Fall begegnen wollte, verzichtete sie aufs Frühstück und flüchtete sich gleich ins Freie, um sich mit ihrer Arbeit von den quälenden und unsinnigen Gedanken abzulenken.
Trotzdem gelang es ihr nicht, seine dunkle, heisere Stimme aus ihrem Kopf zu vertreiben: Ich will dich, Querida … Und ich werde dich bekommen. Ganz langsam werde ich deine Barrieren unterminieren, bis sie zu bröckeln anfangen und du mir nicht länger widerstehen kannst. Bis du in meinen Armen und in meinem Bett liegst …
Dass sie ihm im Pferdestall so unverhofft gegenüberstand, war ein echter Schock für sie gewesen. Und dann musste er auch noch sein T-Shirt ausziehen!
Es war ganz sicher nicht die erste nackte Männerbrust, die Annabelle zu Gesicht bekam. Doch nie zuvor hatten sie derart verstörende Emotionen überflutet wie in der Sekunde, als sie das kraftvolle Spiel seiner Muskeln unter der bronzefarbenen Haut gesehen hatte. Und den schmalen Streifen dunkler Haare, der …
Dann machte Stefano einen einzigen Schritt auf sie zu, und mit der Gewalt eines Tsunamis griff die kalte, tödliche Furcht nach ihr, die sie seit jenem grauenhaften Erlebnis nie ganz verlassen hatte. Sie hätte niemandem erklären können, was in derartigen Momenten in ihr vorging, nicht einmal sich selbst. Das Einzige, was funktionierte, war ihr Fluchtinstinkt.
Sie war gerannt und gerannt, bis sie nicht mehr atmen konnte. Nur langsam kam sie zur Ruhe, und erst jetzt nahm sie auch das Rauschen eines offenbar nahegelegenen Flusses und den Morgengesang der Vögel um sich herum wahr.
Annabelle holte ein paar Mal tief Luft und schaute um sich. Wie weit war sie gelaufen? Und wo war sie
Weitere Kostenlose Bücher