Glaub nicht es sei vorbei
gelegen sein konnte, wenn sie sich so unverschämt benahm. »Bitte bleiben Sie noch ein paar Minuten, Rebekka.«
»Ich kann nicht«, entgegnete Rebekka und ging zur Tür. »Ich habe meinen Hund im Auto gelassen. Er hat entsetzliche Angst vor Gewittern. Und wenn ich mich beeile, schaffe ich es vielleicht noch, vor dem Unwetter nach Hause zu kommen.«
»Na gut, aber seien Sie vorsichtig, meine Liebe«, rief Matilda ihr hinterher.
Draußen wehte inzwischen ein, heftiger Wind. Die Äste der Bäume bogen sich weit nach hinten, und eine metallene Mülltonne rollte scheppernd die Main Street entlang. Ein paar Regentropfen trafen sie mit erstaunlicher Härte. In der Ferne sah Rebekka einen grellen Blitz den dunklen Himmel zerreißen. Sie vergaß zu zählen, wie lange es dauerte, bis laut und bedrohlich der Donner grollte. Wenn sie abergläubisch wäre, müsste sie ein Gewitter in ihrer ersten Nacht in Sinclair als ein schlechtes Omen deuten.
Der Wind wehte ihr das lange rostrote Haar ins Gesicht und klebte ihr die Hose an die Beine. Sie öffnete die Autotür und stieg eilig in den Wagen. Sean drängte sich winselnd auf ihren Schoß. Sie packte ihn am Halsband, schob ihn zurück auf den Beifahrersitz und redete beruhigend auf ihn ein. Sie steckte ihm einen Kauknochen aus ungegerbtem Leder zu, den er im Maul hielt wie eine Zigarre, viel zu nervös, um daran zu kauen.
Langsam lenkte sie den Wagen wieder zurück auf die Fahrbahn und fuhr weiter. Sie beschleunigte das Tempo der Scheibenwischer. Wieder schlitzte ein bösartiger Blitz den Himmel auf und ließ sie zusammenzucken. Wolkenbruchartiger Regen hatte die Main Street um zwanzig vor zehn eigenartig leer gefegt. Die Leuchtreklamen über den beiden Kinos versuchten tapfer, durch den Regenschleier zu glühen. Rebekka bezweifelte, dass viele Leute sich zur Abendvorstellung hatten blicken lassen. Eine knappe Viertelmeile weiter musste Rebekka vor einer roten Ampel warten, die nach schier endlos langer Zeit auf Grün schaltete. Jenseits der Kreuzung bemerkte sie ein eindrucksvolles, weißes Gebäude mit dramatisch geschwungener Stuckverzierung. Auf einem Schild im Vorgarten stand in großen, schwarzen Lettern, die sogar durch den dichten Regen hindurch lesbar waren, DORMAINE'S RESTAURANT. An der Ampel bog sie nach links ab. Ein Donnerknall folgte einem grellen Lichtspeer und ließ Sean aufjaulen und Rebekka zusammenzucken. Der Blitz musste ganz in der Nähe eingeschlagen haben, ein beunruhigender Gedanke, auch wenn sie wusste, dass die Gummibereifung des Autos ausreichend Schutz bot. Sie spürte ein dumpfes Pochen an der rechten Schläfe, ein vertrauter, wenn auch inzwischen seltener Schmerz. Sie würde sich ablenken, ihn einfach vergessen, ein Aspirin nehmen, sobald sie zu Hause angekommen war. Gott sei Dank war es nicht mehr weit, dachte sie, als sie sah, wie die Scheibenwischer vergebens gegen die Regenflut ankämpften. Hin und her. Hin und her ...
Die Scheibe begann vor ihren Augen zu verschwimmen und verschwand. Rebekka versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, alles nicht Greifbare auszuschließen, aber wie mit traumwandlerischer Sicherheit driftete sie in ein fremdes Bewusstsein ...
Ein raues Tuch bedeckte seine Augen und seinen Mund. Jetzt war er blind und stumm. Unter ihm war etwas Hartes — Holz wahrscheinlich — und seine rechte Hüfte und sein rechter Arm waren taub. Etwas war um seine Knöchel gebunden, und die Hände waren ihm mit einer Schnur auf den Rücken gefesselt, die Haut an den Gelenken war schon wund vom vergeblichen Reiben. Ihm war speiübel, und sein Kopf tat entsetzlich weh. Gleich würde er anfangen zu weinen, was scheußlich wäre, weil seine Kinohelden niemals weinten und er sich vorkäme wie ein Baby.
Er versuchte, tief durchzuatmen und die Tränen zurückzuhalten, aber die Luft war heiß und stank abscheulich. Faulig. Und er konnte den Donner hören und den Regen, der gegen die Fenster prasselte. Helle Stecknadelköpfe aus Licht funkelten vor seinen brennenden Augen. Er hatte Angst. Todesangst. Ein lauter Donnerschlag, und er erschauerte und rollte sich zusammen. Schluchzend robbte er über den Boden, bis sein Gesicht gegen etwas Weiches stieß. Tramp, sein Stoffhund. Tramp, der in dem Film Die Lady und der Tramp das Baby vor der Ratte gerettet hatte. Vielleicht konnte Tramp auch ihn retten ...
Langsam verblasste Rebekkas Vision. Die Gedanken des kleinen Jungen wurden vom Geräusch des Regens, der gegen die Windschutzscheibe
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