Glaub nicht es sei vorbei
Song von 1997 schon ein Oldie?« Ihr australischer Schäferhund Sean, der auf dem Schalensitz neben ihr saß, äugte erschrocken zu ihr hinüber. »Ich frage mich bloß, wie sie dann die Musik aus den Fünfzigern nennen? Prähistorisch?«
Rebekka trank den letzten Schluck starken, lauwarmen Kaffees und stopfte den leeren Styroporbecher zu den zwei anderen in die Abfalltüte. Ihr Magen revoltierte, ihre Augen brannten und ihre Hände zitterten. Zu viel Koffein und zu wenig Schlaf. Dazu kam noch die Angst. Seit gestern Nacht wurde sie sie nicht mehr los, seit ihre Cousine Molly sie in New Orleans angerufen hatte, um ihr mit zuteilen, dass Tante Esther an Krebs erkrankt war.
»Das ist doch nicht möglich«, hatte Rebekka dumpf erwidert und an die Frau gedacht, die, solange sie überhaupt denken konnte, vor Gesundheit und Kraft nur so strotzte. Molly hatte ihr erzählt, dass die 75-jährige Esther sich in knapp zwei Wochen einer Operation unterziehen und auch gleich mit der Bestrahlung anfangen wolle. Esther konnte kein Mitleid gebrauchen, und niemand außer halb des engsten. Familienkreises sollte erfahren, wie es um sie stand. »Vor allem dir sollte ich nichts verraten«, hatte ihr Molly letzte Nacht am Telefon gestanden, nachdem ihr siebenjähriger Sohn Todd, den sie nicht beunruhigen wollte, zu Bett gegangen war. »Esther will nicht, dass du extra aus New Orleans hierher kommst, zumal du doch so böse Erinnerungen an Sinclair hast. Du solltest dir also eine Ausrede für diese Reise einfallen lassen.«
Eine Ausrede? Rebekka hatte noch keine gefunden, weil ihre Gedanken seither zu sehr mit der Organisation dieser überstürzten Reise beschäftigt gewesen waren. Die früheren Maschinen von New Orleans nach Charleston in West Virginia waren bereits ausgebucht gewesen, daher hatte sie erst am Nachmittag fliegen können, mit einer Zwischenlandung in Pittsburgh. Bis sie am Flughafen in Charleston endlich ihren Hund in Empfang genommen und einen Wagen gemietet hatte, um die 60 Meilen lange Fahrt nach Sinclair anzutreten, war erneut kostbare Zeit vergangen. Zu allem Überfluss hatte Rebekka sich noch nicht von der schlaflosen Nacht erholt und fühlte sich müde und wie gerädert.
Rebekka schaltete das Radio aus. Der Krach, der sie seither wach gehalten hatte, ging ihr plötzlich auf die Nerven. Sie warf einen Blick hinüber zu Sean. »Du siehst frisch wie ein Gänseblümchen aus. Kein Wunder. Dank des Schlafmittels hast du ja auch beide Flüge durchgeschlafen.« Der Hund sah sie hechelnd an. »Ich weiß zwar, dass du im Allgemeinen nicht gerade wild auf Kinder bist, aber ich hoffe, du magst meinen Neffen Todd. Er ist bestimmt verrückt nach dir.« Ein Speicheltropfen von. Seans Zunge landete auf dem Autositz. »Meine Mutter mag dich bestimmt auch, solange du nicht auf eins ihrer hübschen Kleider sabberst.«
Als kleines Mädchen hatte Rebekka das dicke, weizenblonde Haar, die himmelblauen Augen und den schlanken Körper ihrer schönen Mutter maßlos bewundert. Sie hatte ein silberhelles Lachen gehabt und das Talent, ein kindliches Wesen mit der Erwachsenenwelt in Einklang zu bringen. An einem Abend konnte sie die aufmerksame Gastgeberin einer Dinner Party sein, tags darauf sich mit Leib und Seele Rebekkas Puppenkränzchen widmen oder mit ihr und ihrem Bruder Jonnie Blindekuh spielen.
Der Gedanke an Jonnie versetzte Rebekka einen heftigen Stich in die Magengrube. Jonathan Patrick Ryan, drei Jahre jünger als sie, war ein niedliches, zufriedenes Baby gewesen, das zu einem flinken, lebhaften Jungen mit einem Helm aus blonden Locken und einem. teuflischen Funkeln in den hellblauen Augen herangewachsen war. Als er noch ganz klein gewesen war, hatte Rebekka ihn hätscheln dürfen, als sei er ihr eigenes geliebtes kleines Baby. Doch als er älter geworden war, hatte er eigensinnig auf Gleichberechtigung gepocht. Später hatten sie miteinander gespielt, Geheimnisse geteilt, sich heftig gezankt und wieder versöhnt. Ein Leben ohne ihn war unvorstellbar gewesen für sie, und sie hatte nicht im Traum damit gerechnet, dass sie jemals ohne ihn, sein müsste.
Sie hatte sich getäuscht.
Sean legte seine Pfote auf ihren Arm, weil er ihre Anspannung spürte. »Wir sind schon fast ... da.« Fast hätte sie daheim gesagt, aber Sinclair war nicht mehr ihr Zuhause, schon acht Jahre lang nicht mehr, seit Jonnie ermordet worden war. Sie war nicht mehr dort gewesen, seit sie sich mit achtzehn Jahren an der Tulane University in New Orleans
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