Gleich bist du tot
Öffentlichkeit zeigen. So hatte Brady täglich sieben Stunden in die Grund- und später die Gesamtschule entkommen können. Das war allerdings auch nicht einfach gewesen, nahm er doch weder an den morgendlichen Schulversammlungen noch am Religionsunterricht teil und wurde als Sonderling angespuckt und drangsaliert, bis er stark genug war, sich zu wehren. Aber wenigstens hatte ihm das eine Art Perspektive gegeben, eine Art Wissen darüber, wie der Rest der Welt lebte. Am Morgen seines sechzehnten Geburtstags, dem ersten Schritt hin zum Erwachsensein, verließ er sein Zuhause für immer. Natürlich hatte er da schon eine Freundin, ein Mädchen, das er immer nur flüchtig hatte treffen können. Am Schultor, in den Essenspausen und an den gesegneten Nachmittagen, wenn sie gemeinsam geschwänzt hatten. Sie war ein bisschen eine Schlampe, leicht zu haben, lose, wie wahrscheinlich schon ihre Mutter und deren Mutter. Aber das war okay und machte ihm nichts. Mutter und Tochter ließen ihn mit in ihre Sozialwohnung ziehen, wo der Fernseher niemals ausgeschaltet war und man essen konnte, was man wollte, ins Bett gehen, wann man wollte, wo man trinken, rauchen und einwerfen konnte, was immer einem gefiel. Es war Juli, sie hatten Schulferien, und während der ersten Wochen rollte eine Hitzewelle übers Land, aber Brady blieb in der Wohnung und starrte wie gebannt auf den großen Fernseher, sah sich wieder und wieder jedes verfügbare Video an, wiederholte einzelne Szenen und studierte sie in Zeitlupe. Er musste natürlich Jobs annehmen, um Geld zum Leben zu haben, und ging weiter zur Schule. Seine Hochschulreife erlangte er über eine Abendschule und machte die geschwungene, spinnenhafte Unterschrift seines Vaters nach, um ein Studiendarlehen zu beantragen, als er einen Platz in Bristol angeboten bekam.
Ganz bewusst wandte er sich vom Fenster ab und riss sich damit aus seinen Gedanken. Er sah auf die echte Rolex an seinem Arm, die er mit einer unechten MasterCard bezahlt hatte, und stellte fest, dass es weit später war, als er gedacht hatte. Er hasste es, wenn seine Erinnerung durch einen ungewollten Gedankensprung in die falsche Richtung driftete, und beschloss, nach unten zu gehen und dafür zu sorgen, dass die anderen rechtzeitig fertig wurden. Die Decke im Flur hing niedrig, und die Bodendielen knarzten bei jedem Schritt, genau wie die alte Treppe. Maria hatte seine Tasse Tee längst fertig. Der große Aga-Ofen in der Küche war eingeheizt, und mit dem altmodischen Kupferkessel ließ sich das Wasser darauf in null Komma nichts zum Kochen bringen. Das hatte ihnen der Makler versprochen: dass der Aga bei ihrer Ankunft brennen, das Haus durchgewärmt und auch sonst alles tipptopp sein würde. Brady setzte sich an den massiven Eichentisch und fragte Maria leicht angekratzt, wo zum Teufel Annabel und Adrian seien.
»Annabel nimmt ein Bad, und Adrian packt wahrscheinlich noch aus«, sagte sie, rührte Milch in den Tee und stellte Tasse und Untertasse vor ihn hin.
»Geh und sag ihnen, dass ich sie innerhalb von zehn Minuten hier unten sehen will«, sagte Brady.
Maria nickte auf die übertrieben unterwürfige Art, die er ihr beigebracht hatte und die praktisch einem Knicks gleichkam, und war auch schon weg.
Soweit es möglich war, dachte er nie an seine Kindheit. Wenn man die Scheiße hinter sich gebracht hatte, warum sollte man sie dann wieder und wieder ohne guten Grund in seiner Erinnerung hin- und herwenden? Trotzdem schlich sie sich regelmäßig in seine Träume und in komische, ungeschützte Momente wie diesen. Was er dabei vor allem hasste, war die trostlose, öde Offensichtlichkeit seines Falls: wie sein Verhalten heute die Art und Weise widerspiegelte, in der er damals behandelt worden war. In der Hinsicht beneidete er Annabel um ihre Originalität. Ihre Eltern waren gelassene, Sandalen tragende alte Hippies gewesen, und doch hatte sie aus sich heraus ähnliche Züge wie er entwickelt. Gott sei Dank lebten sie im einundzwanzigsten Jahrhundert, einer Zeit fließender, nicht länger fixierter Identitäten. Heute war es möglich, seine Vergangenheit zu dekonstruieren und sich selbst neu zu definieren und auszulegen. Ihr Projekt war am Ende reine Therapie. Lebe es, tu es, sei es. Unter ihrer Diele hatte es einen Keller gegeben. Nicht alt und nicht interessant. Mehr eine im Boden versunkene Rumpelkammer mit einer nackten Glühbirne, die von der Decke herunterhing. Entlang der Wand standen ordentlich aufgestapelte Kisten
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