Gleich bist du tot
Anklagen vorbereitete. Im Moment allerdings schienen Gewahrsam und förmliche Anklagen noch in weiter, weiter Ferne. Im Moment saß die Bande unbehelligt irgendwo und plante ihre nächste Attacke.
Jacobson stellte den Film wieder auf Pause, änderte die Meinung in Bezug auf das dritte Glas und tappte zurück in die Küche, wo die Flasche stand. Und wo er schon dabei war, konnte er gleich auch eine B&H rauchen. Kürzlich erst hatte Alison den Gedanken aufgebracht, dass sie ernsthaft mit dem Rauchen aufhören sollten, beide zusammen. Jacobson wusste, dass sie recht hatte, dass sein ewiges »weniger rauchen« sinnlos war und nirgends hinführte. Ja, eines schönen Morgens sollten sie aufstehen, ihre letzten Packungen endgültig in den Müll werfen und einen kalten Entzug machen. Aber dieser heldenhafte Morgen stand noch aus, und Jacobson ging hinaus in den Flur, um in seiner Jackentasche nach dem silbernen Feuerzeug zu suchen. Dabei wurde ihm eine andere Merkwürdigkeit der Art-Gang bewusst. Sämtliche Opfer waren nackt ausgezogen worden, sonst jedoch hatte es keine ernsthaften sexuellen Übergriffe gegeben, obwohl doch die Psychologie der Filme vor allem von Seiten Bradys viel mit Kontrolle zu tun zu haben schien, damit, den Willen des Opfers völlig zu brechen. Es war ein Vergewaltigerprofil ohne tatsächliche Vergewaltigung. Jacobson begriff noch nicht, was das bedeuten mochte, aber er wollte den Punkt auf jeden Fall im Kopf behalten. Das war womöglich ein wichtiger Umstand: vielleicht der wichtigste, der ihm bislang aufgefallen war.
Brady ließ sich behaglich in den Sessel neben dem Bett sinken, während Maria seine Kleidung auspackte und sorgsam weglegte. Socken und Unterwäsche in die Kommode. Jacken, Hemden und Hosen auf die Kleiderbügel und dann ordentlich in den Schrank gehängt. So wie Brady es sah, konnte man Kleidung richtig und falsch einordnen, und Maria hatte endlich gelernt (und zwar auf die harte Tour), welchen Grundsätzen dabei zu folgen war. Die Jacketts wurden der Qualität nach angeordnet, die Hemden dem Farbenspektrum entsprechend und die Hosen nach Kategorie: Anzug, Baumwolle, Jeans. Als Maria fertig war, sagte er ihr, er brauche eine Tasse Tee, und schickte sie in die Küche, damit sie ihm eine kochte. Sie gehorchte, und er sah hinaus in den Garten. Trotz des halb vollen Mondes am wolkenlosen Himmel gab es nicht mehr genug Licht, um viel von der lang gestreckten Rasenfläche, den um diese Jahrszeit toten Blumenbeeten und der niedrigen Trockensteinmauer des Gartens erkennen zu können. Direkt vor dem Tor vorne befand sich das Überbleibsel von etwas, das einmal ein Goldfischteich gewesen war. Das Wasser, wenn man es sehen konnte, war dunkel, ungesund grün, und daneben stand eine zerfallende, flechtenüberzogene Statue: Pandora, aus dem alten Mythos, mit der unheilvollen Büchse zu ihren Füßen. Ihm war vorher schon aufgefallen, dass die Spitze ihrer Nase fehlte und ein Stück ihrer linken Brust heruntergefallen war.
Im Vorgarten bei ihm zu Hause hatte es keine Statue gegeben. Das wäre zu überspannt gewesen und absolut nicht schlicht genug. Aber so waren Mum und Dad eben gewesen mit ihrer verrückten Religion, immer heiß auf übertriebene Ödnis und gegen jedes Vergnügen. Er war ein Kind der Achtziger, das laufen lernte, als Mrs Thatcher den fernen Argentiniern und den heimischen Bergleuten eins überzog. Aber seine Eltern waren noch rückständiger gewesen. Kein Fernsehen, kein Kino, keine Weihnachtsergötzung. Er durfte keine Freunde mit nach Hause bringen, die Ungläubige waren, was auf jedes einzelne Kind in der Schule und der Nachbarschaft zutraf. Die Sekte war klein, sie bestand aus kaum mehr als ein paar Hundert Familien, die im ganzen Südosten verstreut lebten, und andere Sektenkinder traf man nur unter strenger Aufsicht. Was Brady rettete, wenn man ihn denn als gerettet betrachten wollte, war die Tatsache, dass die Sekte so klein war. Sie konnte keine eigenen Schulen einrichten oder unterstützen, und Dads jämmerliches Mittelklasseeinkommen – zum unteren Rand der Mittelschicht gehörten sie immerhin noch – eröffnete ebenfalls keine großen Möglichkeiten. Dad ackerte verdrießlich im örtlichen Wohnungsamt, und schon der Gedanke, Brady auf eine angemessen asketische Privatschule zu schicken, lag außerhalb jeder Realität. Natürlich durfte die Mutter nicht arbeiten, durfte nichts verdienen und sich nicht wie all die anderen aufgedonnerten Miezen in der
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