Gleis 4: Roman (German Edition)
reglos da, eine tupfte sich die Augen mit einem Tüchlein ab. Ein Halbwüchsiger schaute zum Himmel hinauf, wo ein Flugzeug zwei Kondensstreifen durchs Blau zog.
Der Pfarrer verabschiedete sich, packte sein Gebetbuch in eine schwarze Mappe und hatte es recht eilig, wegzukommen, dann gingen alle dem Ausgang zu, auf einem Weg, der beim Grab vorbeiführte, vor dem Isabelle stand. Bei den zwei Männern hatten sich ihre Frauen eingehängt, alle schätzte Isabelle um die siebzig, und sie blickten ungerührt vor sich zu Boden, der dritte war älter, ging am Stock und hinkte ein bisschen, und dahinter kamen die zwei andern Frauen mit dem Burschen, dem das alles sichtlich unangenehm war. Als sie an Isabelle vorbeikamen, hob der eine Mann seinen Kopf und streifte sie kurz mit seinem Blick, und Isabelle bemühte sich, auf das Grab zu ihren Füßen zu schauen.
Das mussten sie also gewesen sein, die Leute, die etwas mit dem Toten von gestern zu tun hatten und auf keinen Fall wollten, dass dieser sich hier blicken ließe. Isabelle wusste nicht, was sie tun sollte, und ob sie überhaupt etwas tun sollte. Wenn die Polizei herausgefunden hatte, wer der Tote war, hatte sie die Angehörigen sicher benachrichtigt. Aber woher wusste sie, ob es wirklich seine Angehörigen waren? Die Männer seine Brüder? Und die Verstorbene? Sie brach sich von den Blumen des frischen Grabes eine weiße Rose ab und ging langsam zum Grab, wo zwei Friedhofangestellte die Bänder heraufzogen, mit denen der Sarg heruntergelassen worden war und sie um das Metallgestell wickelten, auf dem er vorher gelegen hatte. Als sie kam, traten die beiden respektvoll zur Seite. Mathilde Meier – Schwegler, 1923 – 2012, stand auf dem Holzkreuz.
»Das war eine kurze Beerdigung«, sagte Isabelle zu den beiden.
»Es wollen nicht alle einen Lebenslauf und eine Ansprache«, sagte der eine, und ihr schien, er verkneife sich ein Lächeln.
Isabelle senkte ihren Kopf und warf die Rose auf den Sarg hinunter.
Als sie sich umdrehte, stand einer der beiden Männer vor ihr.
»Wer sind Sie?« fragte er.
»Mein Name ist –« Isabelle unterbrach sich und fragte zurück: »Und wer sind Sie?«
»Wer sind Sie, dass Sie hierherkommen?«
»Ich …« Isabelle stockte. Wieso war sie genau gekommen, und was ging es diesen Mann an? Sie war ihm keine Rechenschaft schuldig.
»Sie sind Herr Meier, nehme ich an, Mathildes Sohn?«
»Ich …« jetzt wurde der Mann unsicher.
»Ein Bruder von Marcel, nicht wahr?«
»Tut nichts zur Sache, aber jetzt sagen Sie mir, woher Sie Marcel kennen. Sind Sie seine Freundin?«
Zu ihrer eigenen Überraschung sagte Isabelle: »Ja«, um dann hinzuzufügen, »Sie wollten ja nicht, dass er kommt, deshalb habe ich ihn vertreten.«
Der Mann schaute sie verächtlich an und sagte nur: »Dann ist es besser, wenn Sie aus unserm Leben verschwinden«, drehte sich um und machte sich mit langen Schritten davon.
»Herr Meier!« rief ihm Isabelle nach, »Herr Meier, warten Sie!«
Aber Herr Meier wartete nicht, und Isabelle blieb eine Weile wie angewurzelt am Grab seiner Mutter stehen. Als sie ihm schließlich durch die Friedhofruhe nachschrie: »Marcel kann gar nicht mehr kommen!«, war er schon nicht mehr zu sehen.
Isabelle schüttelte den Kopf und schlug dann langsam zwischen Trauerweiden und Familiengräbern den Weg zum unteren Eingangstor ein.
Verwundert hatten die Bestattungsmänner die Begegnung verfolgt.
»Das war ja doch noch eine Ansprache«, sagte der eine und zog das Holzkreuz aus der Erde, um Platz für den kleinen Bagger zu machen, der weiter hinten schon bereitstand.
»Ein bisschen kurz«, meinte der andere.
»Kurz, aber gut verständlich«, gab der erste zurück.
Beide lachten, und der zweite hob den Kranz, der vor dem Kreuz gelegen hatte, auf und deponierte ihn auf dem Nachbargrab. Auf seiner Schleife stand: Deine Kinder.
5
»Vielen Dank … Ihnen auch … auf Wiederhören.«
Isabelle stellte den Telefonhörer in die Basisstation, erhob sich vom Sofa und öffnete das Schränklein unter ihrem Fernseher. Von den paar Flaschen, die dort drinstanden, nahm sie einen Apfelbranntwein heraus, ein Geschenk einer Bauernfamilie, deren alte Mutter sie gepflegt hatte.
Sie trank sehr selten etwas Hochprozentiges, aber nach diesem Gespräch brauchte sie einen Schnaps. Aus der Küche holte sie sich ein Gläschen, setzte sich an den Esstisch und schenkte sich ein. Er war so scharf, dass sie ihn ohne weiteres zur Wunddesinfektion hätte brauchen können,
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