Gleis 4: Roman (German Edition)
und der Geruch, der beim Öffnen aus der Flasche entwich, verbreitete sich sogleich im ganzen Wohnzimmer.
Was ihr der Polizeibeamte soeben mitgeteilt hatte, war derart unerwartet, dass sie das Gefühl hatte, es müsse jemand anderes gemeint sein.
Der Tote war identifiziert. Man hatte beim nochmaligen Durchsuchen seiner Kleidung doch noch etwas gefunden, nämlich ein Streichholzbriefchen in einem Brusttäschchen seines Hemdes. Darauf stand der Name eines Hotels, man hatte dort mit dem Foto des Verstorbenen nachgefragt, und zwei Frauen an der Rezeption hatten ihn erkannt. Sein Name war Martin Blancpain, ein Kanadier aus Montreal, man hatte für den Fall, dass sie sich doch täuschten, die Nacht verstreichen lassen, und als er nicht zurückkam, drang man in das Zimmer ein, fand dort auch seinen Pass und die Reiseunterlagen, die zeigten, dass er am Tag vor seinem Tod auf dem Flughafen Zürich angekommen war.
Aber … er habe doch deutsch gesprochen, schweizerdeutsch …
Dann sei er wahrscheinlich irgendeinmal ausgewandert und habe die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen, meinte der Polizist. Sie hätten seine Frau verständigt, und die werde morgen in Zürich eintreffen, um ihren Mann zu identifizieren.
Und wie sie denn die Frau –
Wenn es eine Adresse gebe und eine Flugbuchung, und zudem ein Handy, das zum Aufladen eingesteckt gewesen sei – da gebe es wahrlich schwierigere Probleme, sagte der Beamte, Natürlich …
Isabelle ärgerte sich über ihre dumme Frage; sie dachte daran, dass sie noch immer die Mappe und das Handy des Toten hatte, und fand den Weg nicht, es dem Polizisten zu sagen.
Wie alt er denn gewesen sei?
72.
Und ob es ein Herzversagen gewesen sei?
Die Obduktion sei noch nicht abgeschlossen, aber da sei noch etwas, fuhr der Beamte fort, und deswegen rufe er sie eigentlich an: Das Careteam lasse fragen, ob sie für den Fall, dass die Witwe gern mit ihr, Frau Rast, sprechen würde, ob sie für den Fall morgen oder vielleicht auch übermorgen in Zürich sei und dazu bereit wäre? Es sei oft so, dass Angehörige von Unfalltoten oder ähnlichen Fällen gern mit der letzten Person sprächen, die den Verstorbenen noch gesehen hätte.
Ja, sagte Isabelle, ja, sicher, das würde sie.
Der Beamte sagte, sie solle doch in nächster Zeit ihr Mobiltelefon eingeschaltet lassen, damit sie erreichbar sei, das Careteam habe heute bereits erfolglos versucht, sie anzurufen und werde sich bei ihr melden, wenn es aktuell werde.
Und nun saß Isabelle am Tisch und versuchte mit dem Gedanken klarzukommen, dass der unglückliche Marcel ein Kanadier sein sollte, oder ein Kanada- Schweizer.
Was sollten denn die Anrufe auf dem Handy, das bei ihr lag und die offenbar einem Marcel galten? Eine Verwechslung? Oder ein Mensch mit zwei Identitäten? Ein Handy im Hotel für Martin und eins in der Mappe für Marcel? Und warum wollte er zu dieser Beerdigung, bei der er so unwillkommen war?
Isabelle nahm noch einen Schluck. Ein Feuer fuhr ihr in den Rachen und durch die Nasenlöcher wieder hinaus.
So oder so, sie hatte zugesagt, die Witwe des Verstorbenen zu treffen, falls diese das wünschte. Vielleicht würde sie bei diesem Gespräch mehr erfahren. Das hieß, dass sie bis morgen oder übermorgen in Zürich bleiben würde. Vorderhand kein Braunwald, kein Weggis, kein Tessin. Die drei ausgepackten Blusen hatte sie gestern wieder eingepackt und den Koffer zugemacht, sodass er genauso reisefertig dastand wie für die Abreise nach Stromboli.
Die Mappe mit dem Handy lag immer noch auf dem Hocker im Gang.
Wieso hatte sie dem Polizeibeamten nichts davon gesagt?
Aber jetzt, da alles klar war, war es auch nicht mehr nötig. Sie konnte ja beides der Witwe geben, wenn sie sie treffen würde. Eigentlich war sie sicher, dass diese ein solches Gespräch wünschte. Wenn jemand im Altersheim starb, ohne dass Angehörige dabei waren, wollten diese meistens wissen, wie es gegangen sei, ob die sterbende Person noch etwas gesagt habe und zu wem. Es gab offenbar ein Bedürfnis, die letzten Spuren des Lebens zu sichern.
Dann würde sich also die Witwe des Verstorbenen mit dessen Freundin unterhalten, dachte Isabelle und musste bei diesem Gedanken lächeln. Sie fragte sich, wieso sie sich als Marcels Freundin ausgegeben hatte. Es war wohl eine Art Trotz gewesen, irgendwie hatte sie ihn schützen wollen gegen die Kälte und Feindseligkeit eines Mannes, der ihm das Recht abgesprochen hatte, einem Menschen die letzte Ehre zu erweisen. Immer
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