Gleis 4: Roman (German Edition)
wieder sah sie die Szene auf dem Bahnhof vor sich, das Zusammensacken des Unbekannten, den erlöschenden Blick und seine Bitte um Hilfe. War das nicht eine Art Hilfe gewesen, dass sie auf dem Friedhof zu ihm gestanden war?
Sie versuchte sich vorzustellen, sie wäre die zuständige Sachbearbeiterin bei der Polizei. Wäre dieser Fall für sie geklärt? Sie würde, wie ihr das vorhin am Telefon ja auch gesagt wurde, einzig noch den Obduktionsbericht abwarten, und wenn der keinen Verdacht ergäbe, etwa auf eine Vergiftung, gäbe es keinen Handlungsbedarf mehr und das Dossier Blancpain könnte geschlossen werden. Dass es da noch eine Mappe und ein zweites Handy des Verstorbenen in der Wohnung der Pflegefachfrau Isabelle Rast gab, konnte die Sachbearbeiterin ja nicht wissen. Das hätte den beiden Polizisten im Einsatz auffallen müssen.
Und an dieser Mappe und ihrem Inhalt, dachte Isabelle, an dieser Mappe lag es, dass der Fall für sie überhaupt nicht geklärt war. Bloß: sie arbeitete nicht bei der Polizei, also konnte es ihr gleichgültig sein. Es ging sie nichts an, sie brauchte nichts aufzuklären. Für sie war es kein Fall, bloß ein Vorfall.
Sie erhob das Gläschen mit dem letzten Schluck des abscheulichen Getränks, sagte mit einem Blick zur Zimmerdecke: »Marcel, à toi!« und trank es aus.
Das Telefon klingelte, und ihre Tochter Sarah fragte sie, wie denn ihre Erste-Hilfe-Geschichte weitergegangen sei. Isabelle erzählte ihr, dass die Polizei die Identität des Toten herausgefunden habe und dass sie sicher noch zwei Tage in Zürich bleiben werde, falls die Witwe mit ihr sprechen wolle. Ob sie Mappe und Handy zur Polizei gebracht habe, fragte Sarah. Nein, erwiderte Isabelle, das sei ja nun nicht mehr nötig, sie werde beides der Witwe übergeben. Und ob nochmals angerufen worden sei auf dem Handy des Toten, fragte Sarah weiter. Sie glaube nicht, meinte Isabelle.
»Ma«, sagte Sarah, »wenn die Witwe nicht mit dir sprechen will, bring’s bitte der Polizei.«
Das werde sie tun, versprach Isabelle, und sie solle sich keine Sorgen machen.
»Ich finde es einfach Scheiße, wenn du anonyme Anrufe bekommst«, sagte Sarah.
»Keine Angst, sie waren ja nicht für mich.«
»Aber sie kamen in deine Wohnung.«
Als Isabelle aufgehängt hatte, blieb sie eine Weile sitzen. Die Anteilnahme ihrer Tochter rührte sie. Ihre Schilderung der Ereignisse war unvollständig gewesen. Sie hatte Sarah die ganze Friedhofgeschichte verschwiegen, ebenso wie das Gespräch mit dem Anrufer. Das hätte sie nur in noch größere Unruhe versetzt.
Dann ging sie zum Handy, öffnete »Anrufe« und sah, dass inzwischen nochmals angerufen worden war. Anonym.
6
Nein, Kinder hätten sie keine mehr gehabt, dazu sei es schon zu spät gewesen, sagte die blonde Frau mit den großen braunen Augen, und blickte an Isabelle vorbei durch die Scheiben des Cafés auf die beiden Türme des Zürcher Großmünsters – et vous?
Sie sprachen französisch zusammen, die Sprache Montreals, wobei Isabelle genau hinhören musste, um hinter dem eigenartigen kanadischen Akzent das herauszuhören, was ihr vertraut war. Auch war ihr das Französische nicht mehr so geläufig wie in ihrer Jugend, als sie während ihrer Ausbildung ein Jahr im Genfer Universitätsspital arbeitete, aber trotzdem konnte sie ihrer Gesprächspartnerin mühelos erzählen, dass sie eine 22jährige Tochter hatte, die étudiante en droits war, Jus-Studentin.
»Et le mari?«
Isabelle lächelte: »Parti en Afrique.«
So war es. Sarahs Vater war ein afrikanischer Assistenzarzt, mit dem sie damals in Genf eine heftige Liebesgeschichte hatte, die nicht nur damit endete, dass sie schwanger wurde, sondern auch damit, dass sie erfuhr, dass ihr Amadou zu Hause schon eine Frau und zwei Kinder hatte, und dass er eines Tages, noch vor der Geburt ihrer Tochter, abgereist war, zurück nach Bamako, capitale de la république du Mali.
Dann habe sie eine farbige Tochter?
Isabelle zeigte ihr ein Foto mit einer lachenden dunkelhäutigen Schönheit, die mit flatterndem Schal vor einer Schweizerfahne am Heck eines Vierwaldstätterseeschiffes stand.
»Vous avez de la chance«, sagte die Frau, und wieder traten ihr, wie schon mehrmals während ihres Gesprächs, Tränen in die Augen.
Véronique Blancpain hatte Isabelle erzählt, wie sie ihren Mann kennengelernt habe. Sie sei vor 20 Jahren auf einem Schiffsausflug auf einem Seitenarm des St.Lawrence Rivers gewesen, wo man weiße Wale habe sehen können, und sei
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