Gleis 4: Roman (German Edition)
dort auf einem erhöhten Deck gleich unter der Kabine des Steuermanns gestanden, als ihr vom Wellengang derart übel geworden sei, dass sie sich habe auf den Boden legen müssen. Als sie die Augen wieder geöffnet habe, habe sich der Kapitän des Schiffes über sie gebeugt, mit der Frage, ob sie Hilfe brauche, und sie sei sicher gewesen, dass das ihr Mann werde, ihr Mann für den zweiten Teil ihres Lebens, denn sie sei schon über vierzig gewesen damals. So sei es gekommen, dieser Mann war Martin, und heute Morgen, in der Leichenhalle, als er so ruhig dalag, habe sie gedacht, gleich schlage er die Augen auf und frage sie, ob er ihr helfen könne.
Sie hatte einen Moment geweint und dann zu Isabelle gesagt, es freue sie, dass er zuletzt noch jemandem habe helfen wollen. Isabelle hatte Martins Witwe den Hergang seines Todes schon erzählt und war froh gewesen, dass diese nicht den Hauch eines Vorwurfs hatte erkennen lassen.
Vielleicht, sagte Isabelle dann, habe er aber auch sie um Hilfe bitten wollen, bloß wie und warum?
Sie glaube, sagte Véronique, er wollte ihr noch einen Gruß an sie mitgeben.
Ob sie denn genauer wisse, warum Martin in die Schweiz gereist sei.
Ein Todesfall, sagte Véronique, die Frau, die seine Mutter gewesen sei, sei gestorben, und er habe zur Beerdigung gehen wollen.
Also die Mutter?
Nein, er sei in einer Pflegefamilie aufgewachsen, doch viel mehr wisse sie auch nicht, er habe ihr fast nichts von seiner Jugendzeit erzählt. Aber leicht sei es wohl nicht gewesen, das habe sie seinen Andeutungen entnommen. Sie könne sich vorstellen, dass die Pflegemutter für ihn eine wichtige Person gewesen sei.
Und der Kontakt mit der Schweiz?
Nul, sagte Véronique, nul, gar keiner. Sie glaube, er habe die Schweiz gehasst … nul – ou presque. Eine Frau habe es in der Familie gegeben, die seine Adresse hatte, und die habe ihn angerufen, als seine Pflegemutter gestorben sei. Er habe sie ihr gegenüber als »ma tante« bezeichnet, aber wer sie sei und wie sie heiße, wisse sie nicht.
Und wann denn Martin nach Kanada gekommen sei?
Kanadischer Bürger sei er seit etwa vierzig Jahren, aber im Land gewesen sei er schon wesentlich früher, das brauchte es auch zur Erlangung des Bürgerrechts. Bevor sie heirateten, habe sie ihm versprechen müssen, dass sie ihn nie über seine Jugendzeit ausfragen werde. Er habe ihr jedoch versichert, sie müsse keine Angst haben, dass er irgendetwas Schlimmes getan habe, je n’ai jamais fait du mal à personne.
Was sie sich im Moment überlege, sei, ob sie ihn nach Kanada zurücknehmen solle, was wohl ziemlich kompliziert sei. Bestimmt wäre es einfacher, ihn hier zu bestatten, immerhin sei es auch das Land seiner Herkunft.
Ein Bild schob sich Isabelle in den Kopf, eine ausgehobene Grube neben dem Holzkreuz für Mathilde Meier, vor welcher nur sie und Véronique Blancpain standen. Und auf einmal tauchte der Meier-Sohn hinter ihnen auf und herrschte sie an, sie sollen aus ihrer Familie verschwinden, samt der Marcel-Leiche, die jetzt eine Martin-Leiche war.
Die wenigen Male, als sie über den Tod sprachen, fügte Véronique hinzu, habe sich Martin gewünscht, dass sie seine Asche in den St.Lawrence River streuen solle, falls sie ihn überlebe.
Sie könne ihn doch hier kremieren lassen und seine Asche mitnehmen, meinte Isabelle.
»Vous croyez que ça va?«
»Pourquoi pas?«
Véronique seufzte. Sie habe immer gehofft, einmal mit Martin in die Schweiz reisen zu können. Und jetzt sei sie endlich hier, aber allein.
»Sie sind nicht allein«, sagte Isabelle, »ich kann Ihnen helfen.«
Sie sei so lieb, sagte Véronique und schneuzte sich, »vous êtes tellement gentille.«
Dann sei da noch die Mappe, sagte Isabelle, zog aus einer Tragtasche die Mappe des Verstorbenen und berichtete, wie es dazu gekommen war, dass sie diese mitgenommen hatte.
Ja, sagte Véronique, das sei seine Mappe gewesen, in die er meistens die Zeitung gesteckt habe, und manchmal auch sein Mobiltelefon. Sie öffnete sie und zog daraus die »Neue Zürcher Zeitung« hervor, die das Datum von Martins Tod trug. Sein Mobiltelefon habe er ja im Zimmer gelassen, sagte sie. Sie hatte sich im selben Hotel einquartiert, in dem Martin gewesen war und hatte dort auch seinen Koffer und alles, was im Zimmer gelegen hatte, ausgehändigt bekommen.
Isabelle kam in den Sinn, dass sie das Handy zu Hause wieder zum Aufladen angeschlossen hatte, verpasste aber den Augenblick, es zu sagen.
Sie müsse zurück ins
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