Gleitflug
Vonhinten sah Liedje wie ein Schulmädchen aus. Die Jeans spannte sich um ihren Hintern, ihre Haare waren lang und goldblond. Gieles saß auf dem Sofa und tastete Liedje mit den Augen ab.
»Mein Gott, Mädel«, sagte sie, »du erzählst aber auch nie was. Das wusst ich nicht.«
Sie drehte sich um. Mit ihrem braunen Gesicht voller Runzeln und den Falten um den Mund war sie wieder Toons Mutter. Sie trug eine tief ausgeschnittene goldfarbene Jacke. Ihr gebräuntes Dekolleté war so gefurcht, als hätte man Tic Tac Toe darauf gespielt. Toon bezeichnete seine Mutter – je nachdem, wie er drauf war – als Depresse, Arschgesicht oder Waldmurmeltier. Hinter ihrem Rücken natürlich. Er besaß ein unerschöpfliches Sortiment an bildlichen Ausdrücken für sie.
Liedje zündete sich eine Zigarette an und trat wieder ans Fenster. Sie nickte heftig und sagte ständig: »Ja, ja, ja« oder »Nä, nä, nä«, wobei sie an der mintgrünen Gardine zupfte. Liedje war ein Mintgrünfreak. Alles im Haus war mintgrün, das Sofa, die Klobrillen, die Küchenschränke, die Türmatte, der Hundekorb.
Toon stellte zwei Gläser Cola auf den Couchtisch und ließ sich aufs Sofa fallen. Im Fernsehen tanzte ein schwarzes Mädchen mit vier schwarzen Männern. Sie hatten fast nichts an. Gieles blickte zur Seite. Toon lag mit dem Rücken halb auf der Sitzfläche. Er hatte Muskeln, aber um sein Gesicht war er nicht zu beneiden. Die kleinen Augen standen zu eng beieinander, und seine Nase hatte die Farbe und Formlosigkeit von Kalbsfilet. Vielleicht, weil er das in Massen fraß, aus der Metzgerei seines Vaters.
Toon drückte mit Daumen und Zeigefinger einen Pickel auf seinem Kinn aus. Den Eiter wischte er an seiner Hose neben einem dunklen Ölfleck ab.
Liedje polierte mit dem Ärmel ihrer goldenen Jacke eine Scheibe des Vitrinenschranks. Sie legte großen Wert auf Sauberkeit, ständig lief sie mit feuchten Tüchern und dem Handstaubsauger hinter Toon und seiner kleinen Schwester her. Im Vitrinenschrank standen Modellmotorräder. Die ganze Familie sammelte sie. Die von Liedje waren mintgrün.
Sie schwieg einen Moment, sagte dann wieder einmal: »Nä, nä, nä« und »Ja, ja« und legte schließlich auf.
»Polman. Hat auch Krebs«, berichtete sie geistesabwesend.
»Was für’n Polman?« Toon rülpste.
»Renee«, antwortete Liedje.
»Renee aus dem Tuntencafé.«
»Was redest du da wieder für Unsinn«, sagte sie ärgerlich. »Sie heißt Renee Polman.«
»Renee mit dem Krebsfrikassee.«
»Du bist wirklich ein widerlicher Flegel. Ich begreif nicht, von wem du das hast.«
»Total wichtig, was du da erzählst.«
»Sie ist erst fünfundsechzig! Ich finde das allerdings wichtig! Und setz dich mit deiner dreckigen Hose auf ein Handtuch! Wie oft hab ich dir das schon gesagt?!«
Sie gab Laute von sich, mit denen man auch eine Katze hätte verscheuchen können.
Total wichtig. Das sagte er ständig. Total wichtig, und dabei machte er ein Gesicht, als ob von ihm aus die ganze Welt auf der Stelle kaputtgehen konnte.
»Danke für die Cola«, sagte Gieles und folgte Toon eilig aus dem Zimmer.
Im Garten standen weiße Engelskulpturen mit mintgrün gespritzten Flügeln. Flugzeug- spotter hielten oft vor dem Haus an. Es war nicht groß, aber wegen des vielen Mintgrün auffällig. Toons Familie wohnte an der gleichen Straße wie Dolly. Bevor die Startbahn gebaut wurde, war hier ein lebendiger Ortsteil gewesen. In jedem Frühjahr hatten die Bewohner ein Straßenfest veranstaltet, und im Winter stellten sie Feuerkörbeund Töpfe mit Erbsensuppe auf den Gehweg. Jetzt waren nur noch drei Häuser bewohnt. Sogar der Hausbesetzer, der Farbbeutel herstellen konnte, war weggezogen. Die Gegend war ihm zu »spooky« geworden. Die Piste hatte das Herz der Siedlung zerschnitten. Wer in der Gefahrenzone wohnte, musste sein Grundstück und Haus verkaufen, und wer sich widersetzte, wurde enteignet.
Toon und Gieles gingen zum Schuppen am Ende des Gartens. Darin standen nebeneinander zwei Motorräder und ein Moped. Liedjes Kawasaki sah aus wie neu, nirgendwo war auch nur der kleinste Spritzer zu entdecken.
Toon setzte den Helm seines Vaters auf und warf seinen eigenen Gieles zu. Gieles roch daran. Das Ding stank innen nach fettiger Kopfhaut, und die Vorstellung, dass sonst Toons Eiterkinn den Kinnschutz berührte, war ekelhaft.
»Mach schon«, rief Toon ungeduldig und fuhr das frisierte Moped aus dem Schuppen; Kies spritzte zur Seite.
»Was machen wir eigentlich?«,
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