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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Gieles hatte furchtbare Angst, seine Mutter könne in einem Flammenmeer sterben.
    Aber sie starb nicht. Auch die Gänse nicht. Sie flogen jetzt in seine Richtung, doch Tufted und Bufted schwebten nicht abwärts, um die gewohnte unbeholfene Bauchlandung vor seinen Füßen zu machen. Sie flogen mit den Saatgänsen und verschwanden in null Komma nichts aus seinem Blickfeld.
    »Gieles.« Super Waling kam keuchend auf ihn zu gestolpert. Speichel lief ihm aus dem Mund, und sein grüner Jogginganzug war komplett durchgeschwitzt.
    Gieles beachtete ihn nicht. Unter dem geöffneten Schirm starrte er in die Luft.
    »Welcome home«, las Super Waling laut und betrachtete die weißen Buchstaben auf dem schwarzen Schirmstoff. »Eine wunderbare Begrüßung … für deine Mutter …«
    Er hob die Kamera und machte ein Foto.
    Von oben war ein Schnattern zu hören. Waling folgte Gieles’ Blick. Es war Wallie. Die kleine Gans arbeitete sich hoch, als müsste sie gegen einen Strom schwimmen. Ihr Flügelschlag war ungleichmäßig. Gieles schrie ihren Namen. In der Ferne kündigte sich die nächste Maschine an.
    Wallie stieg höher und höher, Rumpf und Hals zeigten schräg nach oben. Sie spielte mit dem ungewohnten Element, spürte zum ersten Mal seinen Widerstand. Mutig erforschte sie die neuen Möglichkeiten.
    » WALLIE! WALLIE! «
    Die kleine Gans schlug vor Freude einen Purzelbaum. Nein, das stimmte nicht. Sie trudelte. Die Bilder des ferngesteuerten Steinadlers, der abstürzte und zerschellte, zogen vor seinem inneren Auge vorbei.
    » WALLIE! «
    Trudelnd näherte sie sich mit schlaffen Flügeln dem Boden und landete zwischen Graben und Piste.

34
    Ich bring ihn um.
    Das war sein erster Gedanke, als er seinen Vater sah. Auf der anderen Seite der Piste, mit einer Flinte. Doch sobald sich die Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge näherten, erfasste ihn Panik. Er ließ den bestürzten Super Waling zurück und flüchtete. Zum Maschinenschuppen, etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
    Dort setzte er sich ins Gras, lehnte sich mit dem Rücken an das Wellblech und beobachtete den Himmel. In jedem Vogel glaubte er eine seiner Gänse zu erkennen, dann richtete er sich gespannt auf, nur um wieder zurückzusinken, wenn der Vogel näher kam. Er spähte über die Wiesen, in der Hoffnung, dass seine kleine Gans nach ihm suchte. Vielleicht hatten ein oder zwei Schrotkügelchen sie gestreift, nur leicht an einem Flügel verletzt. Sein Vater war kein so geübter Schütze. Zu seiner Erleichterung verstummten wenigstens die Sirenen der Rettungsfahrzeuge. Er wusste, dass sie nur vorsichtshalber ausgerückt waren. Schlimm genug.
    Er schloss die Augen. Hinter den Lidern zogen Filmbilder vorbei. Schwarzer Rauch, Saatgänse, Wallies Trudeln, schwarzer Rauch.
    Im Schatten des Schuppens schlief er ein. Es war schon kurz vor sieben, als er aufwachte und sich auf den Heimweg machte.
    Fast alle waren da. Seine Eltern. Meike. Onkel Fred. Super Waling. Dolly. Sie saßen im Wohnzimmer wie eine Trauergesellschaft. Als er in der Tür erschien, standen bis auf Super Waling alle gleichzeitig auf. So hatten sie ihn noch nie angeschaut. Freude, Rührung, Trauer lagen in ihren Blicken.
    Seine Mutter brach das Schweigen. »Mein Sonnenschein«, seufzte sie, lief auf ihn zu und schlang den gesunden Arm um seinen Hals, der verletzte hing in einem Dreiecktuch zwischen ihnen. Er verbarg das Gesicht in ihrem schwarzgrauen Haar. Sie roch nach einem langen Flug, Mikrowellenessen, Schweiß, abgestandenem Wein, Erfrischungstüchern.
    Ein Beben in ihrem Körper sagte ihm, dass sie weinte. Er umarmte sie krampfhaft. Sie fühlte sich knochig an. Früher hatte er in ihren weichen Umarmungen Geborgenheit empfunden. Erst jetzt stellte er fest, dass er wieder gewachsen war. Sie waren gleich groß.
    Durch den Vorhang ihres Haars sah er seinen Vater an der Fensterbank stehen, die Hände in den Taschen, er ließ den Kopf hängen wie eine Blume, die nicht genug frisches Wasser hat.
    Er hatte Wallie vom Himmel geschossen. Gieles hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er noch nie zuvor eine Gans getötet hatte.
    Meike hatte sich wieder hingesetzt, sie hockte mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa und lehnte sich an Super Waling. Ihr Lidschatten war verlaufen. Sie hatte ihr feuchtglänzendes Schnürkleid gegen eine Jeans und ein afrikanisches Gewand getauscht.
    Waling hatte noch immer Schmierfett von dem kaputten Elektrokarren an den Händen. Der Bluterguss auf seiner Stirn war dunkler geworden.

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