Glencoe - Historischer Roman
sich auf seiner Handfläche offenbarte, als er die zitternden Finger auffaltete. Ein Haferkuchen, zur Kugel zerdrückt. »Magst du Süßes?«
Sarah streckte ihm die Hand hin, und er legte die Süßigkeit hinein. Sie schob sie sich auf die Zunge, kaute nicht, sondern ließ sie schmelzen.
»Magst du’s?«, fragte er.
»Ich glaube ja«, sagte sie und blies die Kerze aus.
Im Dunkeln fiel es ihr leichter zu lächeln, und seltsamerweise konnte man im Dunkeln hören, ob einer lächelte. Sarah packte die Schultern des Mannes und schob ihn mit aller Kraft zurück; er stöhnte kurz auf, und dann war er frei. Ihm hinterdrein stieg Sarah aus dem Fenster.
In den Häusern, die verstreut in der Talsohle standen, brannte kein Licht. Der Onkel hätte während der Nacht Wächter aufstellen sollen, darauf aber offensichtlich verzichtet.
Der Schecke des Mannes wartete an einem Pflock. Als er zauderte, knuffte sie ihn. Da fasste er Mut, hob sie hinauf und schwang sich hinter ihr auf das Pferd. Auf leisen Zuruf setzte sich das Tier in Bewegung.
In der Stille der Sterne ritten Sarah und Sandy Og über das Moor. Sie tauchten ein in die Nebel, ließen Glenlyon hinter sich. Hierher komme ich nicht mehr , dachte Sarah, drehte sich um, wollte nach der Rotbuche und dem Haus der Großmutter sehen, erblickte aber nur des Mannes Schulter, gab sich zufrieden und lehnte sich an. Vernahm sein Herz und den Hufschlag und das Schnaufen seines Atems. »Sandy Og«, flüsterte sie, weil sie wissen wollte, wie sein Name sich anfühlte.
Aus dem Dunkel drang seine Antwort. »Sarah.«
Greenwich, Februar 1689
Mary, die Prinzessin von Oranien, hatte die Überfahrt in ihrer Kabine verbracht, obwohl das Wetter für die Jahreszeit mild war. Aber milde Wetterlagen hin oder her – im Februar unternahm man keine Schiffsreisen, und noch weniger schickte man Damen auf solche.
Nicht zuletzt daher brodelte in Mary von Oranien etwas, von dem sie als Kind gelernt hatte, dass es Zorn war, dass es Damen nicht stand und dass man es zu schlucken hatte, indem man etwas Süßes hinterherstopfte und das Zornige, Undamenhafte vergaß. Mary liebte Feigen im Zuckermantel und Marzipan. Sie strich sich über den Bauch. Diesmal versagte das bewährte Mittel; der Zorn verschwand nicht. Hatte man sie gefragt, ob sie ihr behagliches, bestens ausgestattetes Heim verlassen und in schneidender Kälte über das Meer segeln wollte? Hatte man Mary von Oranien, geborene Mary Stuart, je etwas gefragt?
Als Mädchen von fünfzehn war sie gezwungen worden, ihr Land zu verlassen. Jetzt, wo sie bald doppelt so alt war, zwang man sie zurückzukehren. Wie konnte man von ihr erwarten, dass sie von diesem Land etwas verstand? Wichtige Männer hatten ihr erklärt, sie sei die Erbin der Krone, dann wiederum, sie sei es nicht, und nun von Neuem, sie müsse es sein. Gelehrt hatte man sie, ihrem Vater in Treue zu gehorchen und ihrem Mann in noch größerer Treue zu folgen. Sie hatte ihr Land nicht verlassen, seine Krone nicht erben und den Mann nicht heiraten wollen, aber sie hatte immer getan, was von ihr verlangt worden war. Es war nicht recht, ihr zuzumuten, dass sie in solchen Wirren Entscheidungen traf.
Wirren gehörten ebenfalls zu den Dingen, die man schluckte, bisim Kopf nichts mehr war, sondern alles sich im Bauch gesammelt hatte. Marys Bauch glich einem gefüllten, ihr Kopf hingegen einem geleerten Fass, und sie hatte niemanden gebeten, den Kopf statt des Bauches benutzen zu dürfen.
Es klopfte an ihrer Tür, und gleich darauf trat ein Mann ein, Gilbert Burnet. Dass der Kleriker aus Schottland stammte, merkte man ihm nicht an. Er war nicht im Mindesten unmanierlich, sondern Marys engster Berater. Er hatte ihr vor einem halben Jahr erklärt, Parlament und Regierung von England wünschten eine Invasion, weshalb Mary und ihr Gatte William dem Land zu Hilfe eilen sollten. »England duldet keinen katholischen Monarchen, es will sich seiner entledigen und ist bereit, dem Prinzenpaar von Oranien die Krone anzubieten.«
Der katholische Monarch, dessen England sich entledigen wollte, um an seiner Statt William und Mary einzusetzen, war James II., Marys Vater. Sie nahm sich noch eine Zuckerfeige und schob sie sich in den Mund.
»Es wäre von Vorteil, wenn Ihr Euch an der Reling blicken ließet«, sagte Burnet. Er hatte William über das Meer geleitet und begleitete jetzt, zwei Monate später, auch dessen Frau. »In Greenwich empfängt Euch Euer Gatte. Auch steht an den Flussufern Volk, um
Weitere Kostenlose Bücher