Glennkill: Ein Schafskrimmi
machen.«
Sie dachten darüber nach, was ihnen Angst machte: große Hunde, laute Autos, die Brennsalbe, Wolfsgeister, Raubtiergeruch. Nichts davon schien geeignet, Gabriel zu vertreiben.
Sie sahen sich ratlos an.
»Aufmerksamkeit«, schnaubte Melmoth plötzlich. »Wenn ihr aufmerksam gewesen wärt, wüsstet ihr schon längst, wovor Gabriel Angst hat – oder um was. Was machen die Menschen, wenn sie Angst haben?«
Miss Maple bekam große Augen. »Sie bauen Zäune«, sagte sie.
Alle Köpfe drehten sich zu Gabriels Schafen hinüber, die schon wieder hungrig durch das Drahtgitter starrten.
»Was kann ihnen schon passieren, hinter dem Drahtzaun, mit dem ganzen Futter, das Gabriel jeden Tag zu ihnen hineinwirft«, blökte Heide bitter.
»Sie könnten krank werden«, sagte Melmoth.
»Sie sollen nicht krank werden«, sagte Zora. »Sie haben es schwer genug.«
»Wenn sie krank werden, können sie uns anstecken!«, blökte Mopple erschrocken.
Melmoth zwinkerte verschwörerisch. »Und wenn wir krank werden?«
Cordelias Kopf war auf einmal voller Worte. All die unheimlichen Namen, die sie von George gelernt hatte, waren ausgebrochen und galoppierten wild durch ihre Gedanken: Prophylaxe, Klauenfäule, Meningitis, Creutzfeld-Jacob … Das Buch über Schafskrankheiten war voller seltsamer Worte gewesen. Und sie hatten alle etwas bedeutet.
Kurze Zeit später hatten die Schafe einen Plan.
*
Sie verschwanden zum Üben im Heuschuppen. Als sie eine ganze Weile später wieder ins Tageslicht trabten, waren sie selbst etwas benommen von dem großen Schrecken, den sie im Halbdunkel des Heuschuppens heraufbeschworen hatten.
Jetzt würden sie Gabriel das Fürchten lehren.
Aber Gabriel saß nicht mehr auf den Stufen des Schäferwagens.
Gabriel graste wieder.
Der kalte Gesang der Sense wehte über die Weide, und das Gras legte sich Gabriel zu Füßen. Die Schafe schauderten. Sie beschlossen zu warten, bis Gabriel mit seinem grausigen Grasegeschäft fertig war.
Und dann, auf einmal, brachte ihnen der Wind nicht nur Sensengesäusel und totes Gras. Etwas viel Schrecklicheres lag in der Luft, die der Morgenwind vom Dorf heraufwehte. Sie galoppierten auf den Hügel und beobachteten von dort, wie der Metzger holprig über den Feldweg rollte, dann über die Wiese direkt auf Gabriel zu.
Die Sense sang laut, und die Räder des Metzgers machten im Gras fast kein Geräusch. Es war schon möglich, dass Gabriel den Metzger wirklich noch nicht bemerkt hatte. Jedenfalls sah er nicht von seiner Arbeit auf.
Der Metzger schwitzte. Er sah eine ganze Weile zu, wie sich die Grashalme vor Gabriel in den Staub warfen.
»Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«, sagte er dann.
Die Sense blieb mitten in der Luft stehen. Gabriel drehte sich zu dem Metzger um und lächelte sein gewinnendes Lächeln.
»Andersherum«, sagte er. »Alles Gras ist so gut wie Fleisch, wenn ich es erst an die Viecher verfüttert habe.«
Die Schafe warfen sich vielsagende Blicke zu. Als hätte er es gespürt, drehte sich der Metzger plötzlich Richtung Hügel und kniff die Augen zusammen.
Gabriel sah den Metzger lange an.
»Was führt dich hierher, Ham?«, fragte er vorsichtig.
Ham schwitzte von der mühsamen Fahrt durchs Gras, und seine Haare, die in Gottes Haus so schön und golden ausgesehen hatten, klebten ihm grau auf der Stirn. Nervös blickte er sich nach allen Seiten um.
»Kommst du eigentlich heute zur Testamentseröffnung unter der Linde?«, fragte er Gabriel plötzlich. »Mittags um zwölf. Ich war mir nicht sicher, ob du davon gehört hast.«
Ham rollte noch ein Stückchen näher zu dem Schäfer hinüber, bis er ihm direkt gegenübersaß. Er sah ihn forschend von unten an.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Ham. Die Leute sprechen seit fast einer Woche von nichts anderem mehr. Jeder hat davon gehört. Und jeder wird kommen – jeder, der laufen kann«, er warf einen Blick zu Ham hinunter, »jeder, der noch nicht tot ist. Außer Father Will natürlich. Der wird uns wieder mal zeigen, dass ihn weltliche Dinge nicht interessieren. Diese Gelegenheit lässt er sich nicht entgehen. Entschuldige, aber du weißt das so gut wie ich. Du bist nicht gekommen, um mich nach der Testamentseröffnung zu fragen. Was willst du, Ham?«
Ham fuhr mit seinen Wurstfingern verlegen über das Rad seines Rollstuhls.
»Ich wollte dich warnen«, sagte er leise.
»Warnen?« Gabriels Augen wurden schmal. »Wovor solltest du mich warnen können, Ham?«
»Vor ihnen. «Ham warf
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