Gletschergrab
sie.
339
2005
340
An dem Tag, als sie zu ihrer Reise aufbrach, wachte sie frühmorgens auf, wie immer, seit sie vom Gletscher entkommen war, innerlich so kalt und leer, als sei etwas in ihr abgestorben und nur noch eine dünne Schale zurückgeblieben.
Von Carr oder seinen Agenten hatte sie weder etwas gehört noch gesehen, seit er im Jahr vor der Millenniumswende an Bord des Flugzeugs mit ihr gesprochen hatte, aber manchmal überkam sie das beängstigende Gefühl, dass sie verfolgt wurde, dass jemand in ihrer Wohnung war, dass jemand ihre Papiere im Büro durchwühlt hatte. Sie wusste nicht, wer Carr und Miller waren und welche Organisation hinter ihnen stand, und sie machte keinen Versuch, es herauszufinden. Sie tat nichts, was Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte.
Sie litt unter starkem Verfolgungswahn. Im Rückblick war sie davon überzeugt, dass es eine Verbindung zwischen der Tatsache gab, dass sie an dem Morgen Licht in ihrer Wohnung gemacht hatte, und dem Telefonanruf, mit dem sie davor gewarnt wurde, Carr zu hintergehen. Irgendjemand beobachtete ihre Wohnung, wusste, wann sie aufwachte, wusste, wann sie Licht bei sich machte. Sie entdeckte nie jemanden, aber manchmal, wenn sie ihre Wohnung betrat, spürte sie diese Anwesenheit, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Es erfolgte aber kein zweiter Anruf.
Sie gewöhnte sich eine völlig andere Lebensweise an. Sie verließ die Stadt nicht mehr, und Reisen ins Ausland gehörten der Vergangenheit an. Sie hatte Beziehungen zu Männern, aber sie waren nie von Dauer. Kinder bekam sie keine. Der Kreis ihrer Freunde war sehr klein, und keiner von ihnen bekam jemals zu wissen, was in Wahrheit auf dem Gletscher geschehen war. Ihr Vater starb kurz nach der Jahrtausendwende, und auch 341
er hatte nur sehr unklare Vorstellungen davon, was seine Kinder durchlitten hatten.
Sie kündigte ihre Stellung beim Außenministerium, machte ihre eigene Rechtsanwaltskanzlei auf und lebte ein einsames, wenig abwechslungsreiches Leben. Ihre Verbindung zu Elías blieb eng, und Júlíus war häufig zu Gast in ihrer Wohnung.
Wenn er kam, saßen sie zusammen und sprachen über das, was sich auf dem Gletscher zugetragen hatte.
Es verging kaum ein Tag, an dem ihre Gedanken nicht um das kreisten, was sie erlebt hatte. Das Zeltlager, die Junkers, das Hakenkreuz, die Leichen im Zelt, Ratoff an Bord der C-17, das Wissen, über das sie verfügte. Ein Jahr nach dem anderen verging, und so sehr sie es auch versuchte, ihre Gedanken kamen nicht von dieser Insel an der Südspitze von Argentinien los, die Borne hieß. Sie versuchte, diese Gedanken zu verdrängen und sich einzureden, dass die Sache ausgestanden sei und sie nichts mehr anginge, aber der Gedanke verfolgte sie, und ganz gegen ihren Willen wurde er immer dominierender, je mehr Zeit verstrich. Irgendwie kam es ihr so vor, als sei die Sache noch nicht endgültig abgeschlossen.
Ausschlaggebend war dabei, dass Steve für dieses Wissen hatte sterben müssen. Sie dachte jeden Tag an ihn und durchlebte in Träumen und im Wachen seinen Tod auf dem Gletscher immer wieder aufs Neue. Die Wunde, die er in ihrem Leben hinterließ, würde nie verheilen, und genauso wollte sie es haben. Aber wenn sie es jetzt dabei bewenden ließe, hätte er völlig umsonst sein Leben gelassen, und dieser Gedanke war ihr unerträglich.
Ein Kapitän hatte sie zuerst auf diese Idee gebracht, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Er hatte Rechtsbeistand bei ihr gesucht, als er sich von seiner Frau scheiden ließ, und daraus war so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Er war Kapitän auf einem Frachtschiff und erzählte ihr davon, dass er einmal eine junge Isländerin mit zwei Kindern von Portugal nach Island 342
geschmuggelt hätte, sie war auf der Flucht vor ihrem portugiesischen Ehemann. Das brachte Kristín auf die Idee. Sie hätte sich einen einfacheren Weg ausdenken und beispielsweise nach Spanien und von dort direkt nach Argentinien fliegen können, aber sie traute dem nicht. Sie traute den Überwachungskameras nicht. Sie traute den Passagierlisten nicht und auch nicht den Passkontrollen.
Nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, ging sie alles ganz ruhig an. Sie versuchte, sich so weit wie möglich der Überwachungsgesellschaft zu entziehen. Sie bezahlte beim Einkaufen nicht mehr mit Karte, sondern nur noch mit Bargeld.
Sie hielt sich fern von Orten, an denen Überwachungskameras installiert waren, und vermied sogar gewisse
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