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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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suchte nach dem Flugzeug. Aber jetzt ist 191

    es wohl schon bald dreißig Jahre her, dass er zuletzt gekommen ist. Uns wurde gesagt, er sei tot. Er hat uns viele Jahre geschrieben«, sagte Jón und reichte ihnen ein paar Briefe. »Er schrieb immer, nachdem er bei uns gewesen war, um sich zu bedanken. Ein unglaublich liebenswürdiger Mann, dieser Miller.«
    »Wie hieß er mit Vornamen?«, fragte Kristín und betrachtete das Bild.
    »Robert«, entgegnete Jón. »Robert Miller. Er bot uns an, ihn Bob zu nennen. Heißen nicht die meisten Amerikaner Bob?«
    »Hat er jemals etwas gefunden?«
    »Nein, nie. Der arme Mann.«
    »Er wollte seinen Bruder finden?«
    »Den Eindruck hatten wir.«
    »Hat er irgendetwas von diesem Bruder erzählt?«
    »Er hat kein Wort über ihn verloren, und wir haben ihn nicht gefragt. Er bat uns, keine Bilder mehr von ihm zu machen. Dies ist das einzige, das wir haben.«
    Das Foto war an einem Sommertag vor dem Pferdestall der Brüder aufgenommen worden. Miller hielt einen Rappen am Zaumzeug und schaute direkt in die Kamera. Er trug, soweit Kristín erkennen konnte, ein kariertes Hemd und Jeans. Er war schlank und trug Handschuhe. Die eine Hand hielt er wie zum Schutz gegen die Sonne an die Augen. Er hatte klare Züge, eine große Nase, aber Mund und Kinn waren nicht so markant. Er hatte eine hohe Stirn, und die Haare begannen, schütter zu werden.
    »Das Tier war noch gar nicht richtig zugeritten. Es fehlte nicht viel, und es hätte Miller umgebracht«, sagte Jón und zeigte auf das Pferd. »Kaum saß er im Sattel, ist es mit ihm hier über den Vorplatz gerast und auf ein Stromkabel zugeprescht, das hier zwischen den Häusern verlief. Glücklicherweise hat Miller das 192

    gesehen und ist rechtzeitig abgesprungen.«
    Jón verstummte eine Weile und schien zu überlegen, ob er weitererzählen oder es hierbei belassen sollte. Sie schauten von dem Foto auf und blickten ihn fragend an.
    Er stand in seinen Wollsocken vor ihnen und trat von einem Bein aufs andere. Schließlich forderte er sie auf, ihm zu folgen.
    »Soll’s der Teufel holen«, sagte er. »ich muss euch etwas zeigen. Einen Beweis, dass es eine deutsche Maschine war.«
    Sie warteten, bis er sich einen dicken Anorak, Stiefel, Wollmütze und Fäustlinge angezogen hatte. Ihre Winteroveralls waren noch im Auto, und er sagte ihnen, dass sie sie holen sollten. Währenddessen blieb er an der Tür stehen.
    Anschließend ging er als Erster in das wirbelnde Schneetreiben hinein, und sie stapften hinter ihm her. Sie konnten nur noch ein paar Meter weit sehen. Kristín ging direkt hinter Jón her und bemühte sich, in seine Fußstapfen zu treten. Sie konnte ihn nur schemenhaft vor sich erkennen. Als Jón plötzlich stehen blieb, stieß sie mit ihm zusammen und spürte gleichzeitig, wie Steve gegen sie prallte. Jón hatte vor einer Tür angehalten, die er jetzt öffnete. Der Wind entriss sie ihm, und sie schlug gegen die Wand. Steve musste ziemlich viel Kraft aufwenden, um die Tür wieder zu schließen. Jón tastete sich im Dunkeln vor und machte Licht. Sie befanden sich in einem Kuhstall, der aber jetzt als Pferdestall diente.
    Sechs Pferde, deren Ausdünstungen den Stall einigermaßen erwärmten, standen in hölzernen Boxen und starrten irgendwie unergründlich auf die unvorhergesehenen Gäste. Jón ging raschen Schritts einen schmalen Gang entlang, der auf der rechten Seite hinter den Pferden entlangführte. Kristín staunte, wie rüstig, leichtfüßig und behände der alte Mann war. Sie hielten sich dicht hinter ihm. Die hintersten Verschläge waren leer, nur in einem befand sich eine große Truhe. Der Schlüssel steckte im Schloss. Jón drehte den Schlüssel um und hob den 193

    Deckel hoch.
    »Wenn das nicht schon bald zwanzig Jahre her ist«, sagte er und ächzte. Der Deckel war sehr schwer.
    Kristín blickte zu Steve hinüber.
    »Vielleicht haben außer ihm noch andere den Absturz überlebt. Er hat sich bloß ein bisschen zu weit links gehalten, sonst wäre er bestimmt auf den Hof gestoßen.«
    »Wäre wer was?«, fragte Kristín.
    »Na, dieser Deutsche doch«, erwiderte Jón, zog eine zerschlissene deutsche Uniformjacke aus der Truhe und hielt sie hoch.
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    22
    Von Manteuffel ist los, um Hilfe zu holen. Hat zwei Tafeln Schokolade mitgenommen. Wir versuchten, ihn so warm auszurüsten, wie wir konnten. Er ist der Stärkste und Zäheste von uns, und ihn hielt es nicht im Flugzeug. Wir waren der Meinung, dass es ihm vielleicht gelingen

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