Gletschergrab
mit einem Freund zusammen, und der lebt nicht mehr. Wir haben gehört, dass du hier im Laufe der Zeit schon öfter den Soldaten geholfen hast, sie auf den Gletscher geführt und alles getan hast, was sie wollten.«
Der anklagende Unterton in ihrer Stimme entging Jón nicht. Er war sichtlich vor den Kopf gestoßen. Er hatte die ganze Zeit das Versprechen gehalten, das er und sein Bruder einstmals Captain Miller gegeben hatten, und niemandem weitergesagt, was er wusste. Auch nicht, nachdem sein Bruder Karl gestorben war.
Er hatte all die Jahre geschwiegen. Und jetzt saß diese Frau vor ihm und warf ihm vor, mit am Tod ihres Bruders schuld zu sein.
Er überlegte einen Moment. Was hätte Karl an seiner Stelle getan?
»Ein Mann namens Ratoff leitet die Operation«, sagte Jón.
»Ratoff!«, rief Kristín aus. »Das ist er! Genau den Namen haben sie genannt!«
»Er ist nicht wie Miller. Aber da Miller ihn geschickt hat …«
»Was für ein Miller?«, fragte Steve.
»Miller war Captain in der Armee und hat die erste Suchaktion 189
hier geleitet, das war 1945.«
»Ist das denn ein amerikanisches Flugzeug da oben auf dem Gletscher und kein deutsches?«, fragte Kristín.
»Nein, ich bin eigentlich eher der Überzeugung, dass es ein deutsches Flugzeug ist«, erklärte Jón langsam und schaute Kristín in die Augen, »Es ist gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hier abgestürzt. Kam im Tiefflug über unser Haus und verschwand im dichten Schneetreiben. Wir wussten, dass es abstürzen würde, es flog viel zu niedrig. Miller hat mir und meinem Bruder gesagt, dass in der Maschine eine gefährliche biologische Waffe war, irgendein Virus, den die Deutschen entwickelt hatten. Es brannte ihnen unter den Nägeln, das Flugzeug sicherzustellen, und mein Bruder und ich hielten es für selbstverständlich, ihnen dabei zu helfen.«
»Ist dieses Flugzeug vor Kriegsende abgestürzt?«
»Kurz bevor der Waffenstillstand vereinbart wurde.«
»Das passt zu dem, was wir von Sarah Steinkamp erfahren haben«, sagte Kristín zu Steve. »Sie hat gesagt, es seien Nazis in der Maschine gewesen. Aber Moment mal, ein Virus?«, sagte sie zu Jón. »Was für ein Virus?«
»Miller hat sich zwar sehr unklar ausgedrückt, trotzdem glaube ich, dass er mehr gesagt hat, als er überhaupt durfte. Wir verstanden uns sehr gut mit ihm, und mir wäre nie eingefallen, das Vertrauen, das er in uns setzte, zu enttäuschen. Niemals.«
Jón sah abwechselnd Kristín und Steve an.
»Miller hat gesagt, dass der Pilot der Maschine sein Bruder war«, fuhr er fort.
»Sein Bruder? Pilot einer deutschen Maschine?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Jón. »Er wollte uns das wohl eigentlich gar nicht sagen, aber irgendwie ist ihm das rausgerutscht.«
»Hat Miller dir gesagt, dass es eine deutsche Maschine war?«
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»Ja.«
»Warum hat ein amerikanischer Pilot eine deutsche Maschine geflogen?«, fragte Kristín.
»Als mein Bruder und ich die Maschine damals in dem Schneesturm gesichtet haben, unterhielten wir uns darüber, dass sie so groß war, dass es gut eine Junkers JU-52 gewesen sein konnte. Die kennt natürlich heutzutage niemand mehr. Der gleiche Typ wie Himmlers Privatflugzeug. Wir wussten da aber noch nicht, dass es sich tatsächlich um eine deutsche Maschine handelte.«
Sie schauten ihn verständnislos an.
»Der Zweite Weltkrieg war für meinen Bruder und mich eine Art Zeitvertreib«, fügte Jón erklärend hinzu. »Besonders die Flugzeuge. Karl wusste alles über die Flugzeuge, die im Krieg eingesetzt wurden, und er fing gleich davon an, dass es eine Junkers sein könnte.«
Sie schauten ihn immer noch an und verstanden gar nicht richtig, wovon er eigentlich sprach.
»Miller war unermüdlich in seiner Suche nach dem Flugzeug.
Wir haben das erst richtig verstanden, nachdem er uns von seinem Bruder erzählt hat. Karl hat ein Foto von Miller gemacht, das habe ich hier noch irgendwo.«
Jón stand auf und ging zu einem großen Büfettschrank, der im Wohnzimmer stand. Der obere Teil, in dem Gläser und Porzellan aufbewahrt wurden, hatte Glastüren, während der untere Teil aus schön geschnitzten Schubladen bestand. Jón bückte sich, zog die unterste Schublade heraus und kramte darin herum, bis er fand, was er suchte. Er hielt ihnen ein altes Foto hin.
»Er kam manchmal in seinen Ferien hierher und stieg auf den Gletscher. Wir nahmen ihn immer bei uns auf. Manchmal war er eine ganze Woche oder einen halben Monat hier. Er kam alle drei bis fünf Jahre und
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