Gletschergrab
sie nach Osten kamen, desto geringer wurde das Verkehrsaufkommen, und nur noch ab und zu begegnete ihnen ein Auto, dessen Scheinwerfer für einen kurzen Augenblick den Jeep erhellten, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden, sodass Kristín und Steve wieder in Dunkelheit getaucht waren.
Sie hingen beide ihren Gedanken nach und redeten wenig. Im Radio wurde von einer Schießerei im Zentrum von Reykjavik berichtet, und Kristín übersetzte die Nachrichten für Steve. Es hieß, dass ein Verletzter ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, wahrscheinlich der Komplize des Schützen. Acht Seeleute waren verhaftet worden, die aber wegen Trunkenheit im Augenblick noch nicht vernommen werden konnten. Den Informationen der Nachrichtenredaktion zufolge ging man davon aus, dass dieser Anschlag mit dem Mord an Randolf Zophóníasson in Verbindung stand. Die Polizei suchte in beiden Fällen nach Zeugen. Außerdem wurde berichtet, dass die Juristin aus dem Außenministerium, nach der die Polizei im Zusammenhang mit dem Mord an Randolf fahndete, immer noch gesucht würde. Zuverlässigen Informationen zufolge stehe sie unter dem Verdacht, Randolf ermordet zu haben, der nicht näher bezeichnete geschäftliche Kontakte zum Ministerium gehabt hatte. Möglicherweise sei sie bei der Schießerei in der Innenstadt am Tatort gewesen. Über den Schützen sei nichts 184
bekannt. Es handele sich um einen ungeheuerlichen Zwischenfall, denn Schießereien kämen in Reykjavik so gut wie nie vor.
Steve setzte sich per Autotelefon mit Michael Thompson in Verbindung, der den Namen des Bauern auf dem Hof am Fuße des Gletschers herausgefunden hatte und ihnen den Namen des Hofes durchgab, Brennigerði. Kristín bekam die Nummer von der Auskunft und rief diesen Jón an, um sicherzugehen, dass er zu Hause war. Er erklärte, dass sie gern zu Besuch kommen dürften, aber ihm sei nicht klar, wie er ihnen behilflich sein könne.
»Hast du seit damals je wieder an mich gedacht?«, fragte Steve, während er im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos die Augen zusammenkniff. Er hatte die meiste Zeit stumm dagesessen und vor sich hin gestarrt, seit sie Reykjavik verlassen hatten.
»Manchmal«, sagte Kristín. »Ich hab doch versucht, dir das zu erklären.«
»Genau. Du wolltest kein Amiflittchen sein.«
»So einfach ist die Sache nicht.«
»Offenbar nicht.«
»Verzeih mir, dass ich dich in diese gefährliche Lage gebracht habe.«
»Was denn, das war doch eine nette kleine Schießerei.«
Er klang aber kein bisschen amüsiert, nur erschöpft.
»Das hat irgendwie einen politischen Hintergrund. Ich bin gegen die Stationierung amerikanischer Truppen in Island.
Während des Kalten Kriegs konnte ich noch irgendwie verstehen, dass sie vielleicht notwendig waren, aber akzeptieren konnte ich es nie. Ich habe sie immer als einen Schandfleck für Island empfunden. So einfach ist die Sache. Die Isländer brauchen keine amerikanischen Truppen und sollten erst recht 185
nicht mit ihnen schlafen. Viel zu viele sind mit denen ins Bett gestiegen, weil sie gut daran verdienten! Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass es so weit zwischen uns kommt, aber …«
Sie suchte nach den richtigen Worten.
»Du bist gegen das Militär, so what?«, sagte Steve.
»So einfach ist das nicht«, erklärte Kristín. »Ich bin gegen die Basis. Ich bin in keinem Verein und keiner Organisation, es geht mir nur um das, was ich selber empfinde. Mir ist der Gedanke an diese Truppen hier auf Island zutiefst zuwider. Mir ist es völlig egal, ob sie amerikanisch sind, englisch, französisch, russisch oder chinesisch, ich werde sie niemals akzeptieren. Nie im Leben werde ich mich damit abfinden. Und je mehr sich hier bei uns die Diskussion um Geld dreht, um Arbeitsplätze, Kündigungen, die volkswirtschaftliche Lage, desto fester wird meine Überzeugung. Mir ist es vollkommen unbegreiflich, wie die Diskussion auf dieses Niveau herabsinken konnte. Das hätte nie passieren dürfen. Ich begreife nicht, warum Island jetzt auf einmal aus finanziellen Gründen das Militär brauchen sollte.
Wer sind wir eigentlich? Was ist aus uns geworden?«
»Aber …«
»Wir wollen uns nur an diesem Stützpunkt bereichern. Diese ganze Scheißnation besteht aus lauter Schmarotzern.«
»Bist du nicht einfach eine von diesen verdammten Scheißkommunistinnen?«, fragte Steve und lächelte schwach.
»Das wäre wahrscheinlich konsequent, aber das stimmt nicht.
Ich bin
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