Gletschergrab
schrien mich an, etwas zu unternehmen. Ich konnte aber gar nichts mehr tun.
Die Kälte.
Ich kann kaum noch den Bleistift halten.
Plötzlich öffnete sich der Zelteingang, und der Sturm blies mit voller Kraft hinein. Es blähte sich so auf, dass die Nähte knarrten und zu zerreißen drohten. Jemand von der Spezialeinheit schrie, dass im Kommunikationszelt Simon an der Leitung sei. Ratoff stand auf, zog das Zelt sorgfältig hinter sich zu und kämpfte sich zu dem großen Zelt hinüber. Selbst auf diesen wenigen Metern zwischen den beiden Zelten konnte er sich in dem gnadenlosen Orkan kaum auf den Beinen halten.
»Noch mehr schlechte Nachrichten?«, rief Ratoff und versuchte, das Brüllen des Sturms zu übertönen.
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»Genau«, sagte Simon. »David liegt bewusstlos im Krankenhaus. Das Weibsstück ist mitsamt ihrem Freund verschwunden. Er ist einer von uns …«
»Was meinst du damit?«
»Dass er Amerikaner ist. Ich glaube, sie sind auf dem Weg zu dir. Ein alter Pilot hier auf der Basis hat sich nach irgendwelchen Brüdern erkundigt, die in der Nähe des Gletschers leben und uns schon früher behilflich gewesen sind.
Er hat ziemlich schnell ausgespuckt, wozu er diese Informationen brauchte. Er sagte, die beiden wären zu ihm gekommen. Angeblich wollen sie auf den Gletscher.«
»Viel Spaß«, schrie Ratoff. »Aber was wir hier oben machen, hat sich zumindest noch nicht rumgesprochen?«
»Außer mit dem Piloten haben sie offensichtlich mit niemandem Kontakt aufgenommen. In der Botschaft haben sie noch keine Reaktion seitens der isländischen Regierungsstellen in Reykjavik. Das Mädchen ist auf der Flucht vor uns und hat wohl kaum Zeit gehabt, andere darüber zu informieren, was hier im Gange ist. Außerdem ist es uns, glaube ich, gelungen, ihr einen Mord anzuhängen, das ist ein Plus.«
»Willst du dich etwa noch mit eurer Blödheit brüsten?«, schrie Ratoff voller Verachtung. »Zwei spezialausgebildete Mitglieder der Delta-Einheit lassen sich am Arsch der Welt von einer dummen kleinen Gans verarschen! Einen von euch Vollidioten hat sie sogar ins Krankenhaus geschickt. Wie wollt ihr euch Carr gegenüber rechtfertigen, ihr Idioten!«
Ratoff knallte den Hörer auf die Ladestation und stiefelte in das Unwetter hinaus.
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23
Die zwei Kriminalbeamten, die am Vorabend Kristíns Wohnung durchsucht hatten, standen in dem irischen Pub an der Theke.
Das Gelände rings um die Kneipe war mit einem gelben Band abgesperrt. Neugierige Passanten hatten sich in der nächtlichen Finsternis auf der anderen Seite der Straße versammelt und verfolgten die Vorgänge interessiert mit. Drinnen wie draußen waren Scheinwerfer aufgestellt worden. Reporter und Fotografen schwirrten überall herum, und vor dem Haus parkten Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht. David und einer der Seeleute waren ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die schönen dicken Schneeflocken, die vom Himmel rieselten, schmolzen dahin, sobald sie auf den Scheinwerfern landeten.
Der ältere Kriminalbeamte nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf.
»Man kommt sich vor wie im Wilden Westen«, meinte er.
»Es passt zu Kristín, sie war hier«, sagte der Jüngere.
»Die Beschreibung der Zeugen passt gut ins Image.«
»Image?«
»Bild. Vorstellung. Auftritt.«
»Mein Gott, red doch isländisch. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles richtig mitbekommen habe: Kristín war hier in Begleitung von mindestens vier anderen Personen, drei Männern und einer Frau. Einer von ihnen lag nachher hier draußen auf den Stufen, schwer verletzt nach einer Schlägerei. Die Seeleute waren der Meinung, dass er Amerikaner war. Zu Brei geschlagen von den Helden der Meere. Die Frau hat sich aus dem Staub gemacht. Ein anderer hat Kristín und den dritten Mann verfolgt und auf sie geschossen. Vorher hatte er versucht, seinem Kumpel drinnen in der Kneipe zu Hilfe zu kommen, und 199
diese Seebären behaupten, dass er auch Amerikaner sei. Kristín und ihr Begleiter sind in einen Jeep eingestiegen und losgebrettert. Der Amerikaner auf der Treppe hatte keine Papiere bei sich. Sein Jeep steht hier vorne, die Nummer ist eine von der Basis in Keflavík. Du hast doch in Amerika studiert, du kennst diese Nation besser. Ich kenn sie allerhöchstens aus Kinofilmen.«
»Ich steige genauso wenig dahinter wie du. Vielleicht bekommen wir ja in der Botschaft eine Erklärung.«
»Ja, genau. Genial – die Botschaft wird das schon für uns aufklären, kein Problem! Reden wir doch einfach mit
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