Gletscherkalt - Alpen-Krimi
selten.
Marielle hatte das Gefühl, dass es nach Krankheit und Verzweiflung
roch. Was sie nicht ahnen konnte: Es war jetzt schon viel besser. Vor ein paar
Tagen noch war dieser morbide Geruch viel schlimmer gewesen.
Endlich fuhr Hosp in seinen Ausführungen fort: »Spiss machte das,
was viele Männer tun, nicht nur die Reichen: Er nahm sich eine Geliebte.«
»Wäre vielleicht ja auch etwas für Reuss«, sagte Pablo lakonisch,
und alle starrten ihn einen Moment lang an, weil diese Schlagfertigkeit und
dieser bergstrohtrockene Humor gar nicht so recht zu ihm zu passen schienen.
Meist war er ja der Stillste in diesen Runden.
»Er nahm sich also eine Geliebte. Was an sich noch nicht den Skandal
ausmacht. Wenngleich, die Boulevardpresse hätte auch das schon genüsslich
aufgegriffen und medial breitgetreten. Der Skandal war dann ein doppelter: Die
Geliebte war eine Schülerin, noch keine siebzehn Jahre alt. Spiss war da schon
über vierzig …«
»Doppelt?«, warf Marielle fragend ein.
»Doppelt deshalb, weil das Mädchen auf tragische Weise ums Leben
kam.«
Hosp schwieg. Und alle anderen taten es auch. Es war, als müssten
sie diese Nachricht erst verdauen.
»Sie waren für einen Abend nach Bozen gefahren. Haben im Weißen
Rössl gegessen und dann noch eine Stunde in einem Hotel verbracht – der Name
ist mir entfallen. Die Obduktion des Mädchens hat damals ergeben, dass sie
nicht Englisch oder Mathe gebüffelt haben auf dem Zimmer –«
»Wie alt war sie noch mal?«, fragte Marielle dazwischen. »Und er?«
Hosps Antwort quittierte sie mit einem Kopfschütteln.
»Und was ist dann passiert?« Schwarzenbacher hatte sich auf der
Couch aufgesetzt, seine Haltung verriet Gespanntheit und Erwartung.
»Komm, los, erzähl!«
Hosp schien es zu genießen, Schwarzenbacher ein ganz klein wenig auf
die Folter zu spannen. Er griff zu der Flasche Stiegl-Goldbräu, die geöffnet
vor ihm auf den Tisch stand, lehnte sich zurück und nahm genüsslich zwei tiefe
Schlucke. Den Mund wischte er sich mit dem Handrücken ab. Jetzt erst war er
bereit, weiter zu berichten.
»Auf der Heimfahrt kam der Wagen von Spiss von der Fahrbahn ab und
raste gegen einen Baum. Spiss überlebte, das Mädchen, eine gewisse Carla
Manczic, starb. Sie war allerdings nicht sofort tot. Vielleicht hätte sie
gerettet werden können. Wenn …«
*
»Wenn ihr früher geholfen worden wäre, hätte sie vielleicht
überlebt«, sagte der Geistliche Rat zu Jonas Parth. »Die Zeitungen und das
Fernsehen haben den Skandal damals breit ausgetreten. Dabei konnte man noch von
Glück sagen, dass es die Privatsender noch nicht gab. Ich glaube, dann wäre
alles noch viel schmutziger und blutiger geworden als ohnehin schon.«
»Und dieser Mann, der so oft in die Kirche kommt und doch nur um
Hass und nicht um Erlösung betet – er ist also der Vater?«
»Richtig. Er ist der Vater. Er ist an seinem Schicksal zerbrochen.
Und ich sage das nicht einfach so dahin. Dieser Mann ist am Tod seiner Tochter
kaputtgegangen, verrückt geworden.«
Der Geistliche Rat tippte sich an die Stirn. »Er ist wirklich nicht
mehr richtig im Kopf. Er hat alles verloren: seine Familie, sein Geld, seine
Existenz, seinen Verstand.«
Parth hatte den Geistlichen Rat nach dem klösterlichen Abendessen
angesprochen, ihn um seine Meinung zu dem rätselhaften Alten gebeten. Es machte
ihn immer ratlos, wenn einer armen Seele nicht geholfen werden konnte.
»Nein, dem kann man nicht helfen. Der ist wirklich nicht richtig im
Kopf. Er hätte einen Psychiater gebraucht – aber schon vor langer Zeit, damals,
nachdem geschehen war, was geschehen war. Jetzt müsste man ihn eigentlich in
ein Heim stecken. Aber da er an sich ja harmlos ist, sich selbst versorgt und
niemandem Böses tut, lässt man ihn.«
»Er wohnt hier in der Stadt? Ganz allein?«, fragte Parth.
Der Geistliche Rat musste schmunzeln: »In Innsbruck leben doch eine
ganze Menge Irre. Da kommt es doch auf einen mehr nicht an.« Doch er wurde
gleich wieder ernst. »Spaß beiseite: Das Leid dieses Mannes ist ganz einfach
unbeschreiblich. Die Tochter starb, und alle Welt erfuhr, dass sie ein leichtes
Mädchen war, sich mit dem Unternehmer eingelassen hatte … Sex, verstehen Sie?
Bei der Obduktion war sein Sperma festgestellt worden – und das konnte man dann
in der Zeitung lesen.«
Parth schlug die Augen nieder.
»Man muss sich das vorstellen: Wie entsetzt der Mann gewesen sein
muss, allein weil die Tochter tödlich verunglückt ist. Und
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