Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Nacken fühlten sich fürchterlich
verkrampft an, und aus dem unteren Wirbelbereich jagten in unregelmäßigen
Abständen stromstoßartige Wellen durch seinen ganzen Körper.
Er stellte sich die Frage, was geschehen war und wo er sich befand
und was die Schmerzen mit seiner Blindheit zu tun haben konnten.
Wieder jagte ein Stromstoß durch seinen Rücken und ließ Hellwage
erzittern. Er stöhnte auf, er hörte sich selbst, und irgendwie tat es ihm gut,
sich wenigstens hören zu können.
Aber diese Schmerzen! Im Kopf, im Rücken, überall. Und jetzt spürte
er die Qual auch in seinen Armen und mehr noch als anderswo an den
Handgelenken. Seine Arme mussten so stark gedehnt sein, dass die Muskeln bald
reißen würden. Und die Handgelenke, die grauenvoll brennenden Handgelenke
mussten tiefe Schnitte aufweisen, Schnitte bis auf die Knochen …
Er stöhnte, und er hörte sich wieder selbst, doch auch das war nun
kein Trost mehr.
Sein Gehirn begann wieder zu arbeiten, Gedanken formten sich, doch
er hatte keine Erinnerung an das, was kurz vor dem Eintreten der Nachtschwärze
gewesen war. Er wusste, wer er war. Das war alles. Doch er konnte nicht sagen,
was ihm zugestoßen war und wo er sich jetzt befand.
Er hatte geglaubt, tot zu sein. Doch die Schmerzen, die seinen
Körper quälten, machten ihm nur allzu deutlich, dass er noch lebte.
Er versuchte zu sprechen. Doch es kamen nur unartikulierte Geräusche
aus seinem Mund. Das Wort, das er sagen wollte, verendete in einem Röcheln.
Hellwage versuchte es wieder. Und wieder. Versuchte es so lange, bis
die Worte sich formten, bis sie gehört werden mussten, wenn jemand in der Nähe
war.
»Bit-te … bit-te … Was-ser … bit-te … trin-ken …«
Doch es kam niemand, um ihm Wasser zu geben, um ihm zu helfen, um
ihn von seiner Pein zu erlösen, wenigstens die schlimmsten Schmerzen zu
mildern.
Hellwage war blind, er wusste nicht, wo er sich befand, er stöhnte
vor Schmerz – und das war das Einzige, was er hören konnte.
Er war allein. Er war blind. Und er wurde fast wahnsinnig vor
Schmerzen.
*
Noch im Abstieg wurde Marielle von den Erinnerungen verfolgt.
Immer wieder versuchte sie diese Bilder abzuschütteln, doch sie kehrten gleich
zurück. Sie wollte sich berauschen an der Landschaft, an den Bergspitzen und
den Gletscherströmen. Aber in die beinahe unwirkliche Schönheit drängten sich
die grauenhaften Eindrücke von damals.
Da lag dieser Mann am Boden, und er schien sie anzusehen. Was aber
gar nicht möglich war: Ihm war mit einer Schrotflinte ins Gesicht geschossen
worden. Der Mann war tot, und Gesicht hatte er keines mehr.
Reiß dich zusammen, dachte sie. Reiß dich zusammen. Du bist die
Erste am Seil, Mariele, und du solltest verdammt noch mal den besten Weg durch
diese Spaltenlandschaft finden. In so einem stummen Selbstgespräch nannte sie
sich selbst oft Mariele mit dem »le« als Verniedlichungsform von Marie – so
wie sie in der Schule früher bisweilen gehänselt worden war.
Sie stiegen anders ab, als sie heraufgekommen waren. Und hier war
keine Spur, die ihnen den sichersten Weg wies. Grundsätzlich war klar, wohin
sie sich zu orientieren hatten. Doch die Entscheidungen, ob man weiter links
oder rechts gehen sollte, waren jedes Mal schwierig. Marielle musste das
Gelände »lesen«, musste mit ihrer Erfahrung und ihren bergsteigerischen
Instinkten die sicherste Route durch unsicheres Gelände finden. Und Marielle
verfügte über gute Instinkte, und sie hatte immer schon ein »gutes Händchen«
gehabt, wenn es darum ging, aus verschiedenen Möglichkeiten die beste und damit
gefahrloseste zu wählen.
Heute war es anders. Sie tat sich schwer, sich aufs Wesentliche zu
konzentrieren. Die Begegnung mit dem Bergretter hatte Erinnerungen aufgefrischt,
die sie fest in sich verschlossen geglaubt hatte. Da waren diese grauenvollen,
wiederkehrenden Bilder, sie waren schlimm, aber nicht einmal das Schlimmste.
Was sie während des Abstiegs noch mehr aus der Fassung brachte, war, dass die
Umstände, die zum Tod des Hüttenmörders geführt hatten, nie geklärt worden
waren. Die offizielle Version lautete, dass er von einer Lawine in den Tod
gerissen worden war. Marielle hatte man nach langer Suchaktion gefunden, mehr
tot als lebendig, dem Mörder entkommen, aber im winterlichen Hochgebirge
beinahe zugrunde gegangen.
Weiß glitzerte die Oberfläche des Gletschers. Nirgendwo waren
Spalten. Sie war froh, dass alles weiß war und nirgendwo Löcher und Klüfte in
der
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