Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
Vom Netzwerk:
dass er seit
siebenundfünfzig Jahren mit Leidenschaft in die Berge ging.
    »Und wie schafft man das?«, fragte sie.
    »Nicht rauchen, mäßig im Trinken und Sex nur zweimal im Monat«,
sagte er lächelnd zu Marielle, »dann bleibst fit bis ins hohe Alter.« Seine
Freunde quittierten diese »Lebensweisheit« mit schallendem Gelächter.
    Doch Marielles grinsende Antwort ließ das Lachen verstummen, und die
in die Jahre gekommenen Männer staunten nicht schlecht. »Ich probier’s lieber
so: Trinken wenig, Rauchen selten – dafür Sex zweimal am Tag. Ich wette, damit
werden Pablo und ich uralt …«
    »Du bist richtig«, sagte der Älteste, und er klopfte ihr auf die
Schulter.
    Die Stimmung wurde jedoch urplötzlich ernster, als einer der Männer
zu Marielle sagte: »Mädel, dich kenn ich doch. Irgendwoher kommst mir bekannt
vor.«
    Sie sah sich den Mann genauer an, zuckte dann mit den Schultern.
»Nicht dass ich wüsste.«
    Während alle ihre Brotzeit aßen und dabei auf die vielen weißen
Bergspitzen schauten – Besteigungen erinnernd oder ersehnend –, sah der Mann
sie immer wieder mal an. Er schien in seinem Gedächtnis zu kramen, um
herauszufinden, warum ihm die junge Frau so bekannt vorkam.
    Plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Aber er sagte
nichts. Noch nicht.
    Erst als sich alle wieder zusammenrichteten, ihr Zeug in den
Rucksäcken verstauten und dabei waren, sich ins Seil einzuhängen, trat er kurz
neben sie und sagte: »Ich weiß wieder, wer du bist. Du bist das Mädchen, das
damals im Winter an der Schattenwand gerade noch lebend geborgen worden ist.
Ich war einer von den vielen Bergrettern, die nach dir gesucht haben. Schlimme
Geschichte …«
    Sie sah ihn an und durch ihn hindurch, und es war ihr einige
Augenblicke lang so, als würde sie das Matratzenlager in der Hütte unter der
Schattenwand riechen, den Angstschweiß der Menschen darin. Und als würde sie
die Stimme der Hüttenwirtin hören, ihr hysterisches Schreien … und als würde
sie den Toten in seinem Blut liegen sehen … und als würde sie die Qualen des
Biwaks im Schnee …
    »Hey!«, hörte sie ein Rufen. »Hey, was ist denn los? Wollt ihr euch
nicht fertig machen?«
    Marielle war schlagartig wieder im Hier und Jetzt. Sie sah den
Bergrettungsmann vor sich, und sie war froh, die Erinnerungshölle wieder
verlassen zu können.
    Sie klinkte den Seilknoten in den Schraubkarabiner am Klettergurt,
sah noch einmal auf, traf den Blick des Mannes und sagte, ganz leise, doch laut
genug, dass er es verstand: »Danke.«
    *
    Tiefe Schwärze. Schwärzer als jede Nacht. Stromausfall mitten in
einem vielfarbigen Traum.
    Wenn das der Tod war, war es gut. Das Schwarz umhüllte ihn wie ein
Kokon. Die Stille war grenzenlos. Und der Körper war frei: schwerelos in einem
Weltall, in dem es keine Sterne gab. Auf der Rückseite des Universums.
    So hätte er ewig dahintreiben wollen, ohne Gestern, ohne Heute, ohne
Morgen. Frei von Schmerz, frei von Erinnerungen und frei von Plänen und
Wünschen.
    Gut war der Tod, leicht wie eine Feder.
    Gut war der Tod – doch er war ein schwarzes Trugbild.
    Enttäuschung war das Erste, was Hellwage verspürte. Denn allmählich
bekam sein Körper wieder Gewicht, die Schwerelosigkeit verebbte, unweigerlich
zog es ihn nach unten.
    Dann kam der Schmerz.
    Alles blieb schwarz und undurchdringlich, doch der Schmerz war da
und fraß sich von verschiedenen Seiten her in ihn hinein.
    Es dauerte, bis er den Schmerz orten konnte. Als es jedoch so weit
war, hätte Hellwage viel darum gegeben, wenn er länger in diesem undefinierten
Zustand hätte verharren können. Denn mit der Ortung des Schmerzes in seinem
Körper erreichte dieser zugleich eine neue Dimension.
    Rücken. Arme. Hände. Kopf.
    Am schlimmsten war der dumpf-dröhnende Schmerz, der seinen Kopf
ausfüllte. Ein Übelkeit bereitender Schmerz, nicht lokalisierbar, wo er seinen
Ausgang nahm, ob am Hinterkopf, an den Schläfen, hinter den Augen oder im Mund.
Der erste Gedanke, der sich aus der Schwärze nach vorn schob, war: Ich muss
gestürzt sein, schwer gestürzt und irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen.
    Der zweite Gedanke war: Ich kann nichts sehen.
    Diese Erkenntnis kam ganz ohne Panik, eine rein sachliche
Feststellung. Alles ist schwarz. Ich kann nichts sehen. Nicht das Geringste.
    Waren es Minuten oder Sekunden, ehe er die nächsten Schmerzen
wahrnahm? Sein Rücken – als ob jemand an ihm zöge, gleichzeitig an den Armen
und an den Beinen. Die Schultern und der

Weitere Kostenlose Bücher