Gletscherkalt - Alpen-Krimi
dieser Tour, die gar nicht
schwierig sein würde, sondern für sie beide reines Genussbergsteigen wäre, auf
andere Gedanken zu bringen.
Sie spürte, dass auch er sich freute.
Aber an seinen Augen glaubte sie ablesen zu können, dass er mit sich
noch längst nicht im Reinen war. Er quälte sich mit seinem Fehler herum, redete
sich ein, etwas ungeheuer Wichtiges versäumt zu haben, und hatte Angst, dass
dieses Versäumnis Folgen haben könnte.
Eine Angst, die ganz tief saß, die sich in ihn hineingefressen hatte
und die so leicht nicht zu vertreiben sein würde.
»Komm«, sagte Marielle zu Pablo. »Morgen Abend sind wir zurück. Und
dann …«
»Was dann?«, fragte er.
Marielles Antwort kam ganz ohne Worte aus. Sie schob ihr Becken nach
vorn und brachte es ganz sanft zum Wippen.
Pablo spitzte die Lippen, als müsste er erst über ein derartiges
Angebot nachdenken. Dann schaute er ganz ernst und sagte nur: »Ich weiß
wirklich nicht, was du meinst.«
5
Der Morgen kam in einem undefinierbaren Farbengemisch aus Blau
und Grau, in das sich Violett-und Orangetöne hineinmischten, bald auch ein
goldgelber Streifen über den Bergspitzen im Osten.
Marielle und Pablo waren noch in der Dunkelheit aufgebrochen, waren
im Schein ihrer Stirnlampen dem Pfad gefolgt und hatten im allerersten Licht
des Tages den Gletscher erreicht.
Schon bei diesem Anstieg war ihnen klar geworden, dass der Winter
auf diesen Höhen noch nicht gänzlich vorüber war. Immer wieder querten sie auf
den Moränen und entlang des Gletscherschliffs größere Schneefelder, die sich
hartnäckig gehalten hatten.
»Noch ganz schön viel Schnee«, sagte Marielle, und in ihrer Stimme
lag die Skepsis, ob unter solchen Bedingungen ein Aufstieg zum fast
dreieinhalbtausend Meter hohen, von Gletschern umrahmten Wilden Pfaff überhaupt
ratsam oder möglich wäre.
»Ja«, sagte Pablo. »So viel Schnee hätte ich auch nicht erwartet.
Aber die Spuren zeigen, dass schon einige hier gegangen sind. Wir werden halt
am Gletscher verdammt aufpassen müssen.«
Marielle wusste, was er damit meinte. Im Winter, wenn in diesen
Höhen drei oder vier Meter Schnee fielen, wurden viele der oft riesigen und zig
Meter tiefen Spalten zugeschneit oder von sogenannten Schneebrücken überdeckt.
Es dauerte dann bis in den Hochsommer, ehe all der Schnee weggetaut war und die
gefährlichen Spalten inmitten blanken Eises ganz unschwer zu erkennen waren.
Jetzt, im Frühsommer, war die Oberfläche eines Gletschers trügerisch: Unter dem
strahlenden Weiß konnte sich urplötzlich ein Abbruch auftun, eine Kluft,
zwanzig, dreißig Meter tief und tödlich für den, der da ohne Seilsicherung
hineinstürzte.
»Wir müssen wirklich vorsichtig sein«, bekräftige Pablo seine Sorge
noch einmal. »Es wäre besser, wir könnten mit anderen eine Viererseilschaft
bilden, als nur zu zweit auf den Gletscher zu gehen.«
Auch das lag für Marielle auf der Hand: Wenn einer aus der
Seilschaft plötzlich in eine Spalte stürzte, mussten sich die anderen in den
Schnee werfen. Die Reibung des in die Spaltenkante einschneidenden Seiles und
dazu die Reibung der Körper der Kameraden im Schnee würden dafür sorgen, dass
der Sturz abgefangen werden konnte.
»Ich glaube, dass hinter uns noch welche kommen«, sagte Marielle.
Wir brauchen hier nur zu warten. Ich bin sicher, dass alle froh sind, wenn man
sich zu einem größeren Team zusammenschließen kann. Drei oder vier Leute können
einen Sturz leichter halten als einer allein …«
»Und sie tun sich auch leichter, einen Gestürzten wieder aus der
Spalte rauszuziehen. Du hast recht, warten wir hier.«
Während sie die Klettergurte anlegten, das Seil schon einmal
herrichteten und die Steigeisen an die Stiefel schnallten, genossen sie die besondere
Atmosphäre des Morgens im Hochgebirge.
Die Farben des Himmels. Die Klarheit der Luft und das Aroma dieser
Landschaft: Der Duft der bergfrühlingsfeuchten Erde und der nachtnassen
Bergblumen und Gräser; der Geruch des Gesteins – Marielle war jedes Mal aufs
Neue überrascht und begeistert, wie klar und deutlich man Fels riechen und
verschiedene Gesteinsarten wie Kalk, Urgestein oder Granit am jeweils eigenen
Geruch unterscheiden konnte. Und dann natürlich auch der Geruch von Schnee; sie
hätte nicht sagen können, wie man den beschreiben könnte. Sie wusste nur, dass
sie ihn liebte, dass sie ihn immer wieder genießen wollte, denn es war für sie
nicht einfach nur ein Geruch, sondern zugleich eine Verheißung
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