Glockengeläut
Fenster kniete, erstand in aller Klarheit vor seinen Augen, so als wären die holzgetäfelten Wände dazwischen nurmehr transparente Gazevorhänge einer Theaterbühne. Und das Ding, das er in der Straße gesehen hatte, huschte auf gezackter Bahn durch sein Gedächtnis, hin und her, hin und her.
Dann entfaltete sich die Leidenschaft in ihm, öffnete Kranz um Kranz ihre Blütenblätter, so wie die rote Blume des Zauberkünstlers unter dem staunenden Auge wächst, ohne Erde, ohne Sonne, ohne Saft. Die einschläfernde Schwüle der Zärtlichkeit durchwebte den modrigen Raum mit ihrem Duft. Die transparenten Wände erhielten ihre Undurchsichtigkeit zurück, und die Prophezeiungen des alten Mannes erschienen nur noch als krankhafte Obsession. Gewiß war die Straße stets so leer gewesen, wie sie nun dalag. Seine Augen mußten ihn getrogen haben.
Vielleicht war es ja auch die grenzenlose Fügsamkeit der Liebe, die ihn getäuscht hatte, am meisten offenbar darüber, wieviel Zeit seit dem Ersterben der Glocken verflossen war; plötzlich jedenfalls drängte Phrynne sich ganz fest an ihn, und er hörte Schritte draußen auf der Hauptstraße und eine rufende Stimme. Laute Schritte waren es, die sogar durch die geschlossenen Fenster an sein Ohr drangen; und die Stimme hatte die schrille Heilsbesessenheit eines Straßenpredigers.
»Die Toten sind erwacht!«
Nicht einmal der unverkennbar ländliche Dialekt und auch nicht die gutturalen Gefühlswallungen in der Stimme konnten den Sinn des Rufes verfälschen oder verhüllen. Zunächst blieb Gerald im Bett liegen, lauschte mit jeder Faser seines Körpers, konzentrierte sich immer mehr, je größer der Lärm wurde; dann schnellte er hoch und stürzte ans Fenster.
Ein stämmiger, langgliedriger Mann in einem Matrosenpullover rannte durch die Straße, wurde jeweils für eine Sekunde im Licht der Straßenlaternen sichtbar, verwandelte sich im dunklen Raum dazwischen in eine ungeschlachte, schwankende Geistererscheinung. Während er seine Frohe Botschaft hinausposaunte, torkelte er von einer zur anderen Straßenseite und ruderte hysterisch mit den Armen. Im Licht der Laternen konnte Gerald erkennen, daß sein wettergegerbtes Gesicht verklärt war.
»Die Toten sind erwacht!«
Schon strömten hinter ihm die Menschen aus ihren Häusern, drängten aus den Stockwerken über den Läden auf die Straße hinab, Männer, Frauen, Kinder. Die meisten von ihnen waren vollständig bekleidet, sie mußten in Dunkelheit und Stille auf den Ruf gewartet haben; einige wenige jedoch trugen ihr Nachtgewand oder die erstbesten Kleidungsstücke, die ihnen in die Hände gefallen waren. Manche von ihnen formierten sich zu kleinen Gruppen und schritten Arm in Arm daher, wie es bei feuchtfröhlichen Betriebsausflügen nach Blackpool üblich sein mochte. Die meisten jedoch blieben für sich, schwenkten gleich dem ersten Rufer ekstatisch die Arme über dem Kopf. Und alle schrien sie, durcheinander und gegeneinander, ohne gemeinsamen Rhythmus, ohne Harmonie: »Die Toten sind erwacht! Die Toten sind erwacht!«
Gerald bemerkte, daß Phrynne hinter ihn getreten war.
»Der Kommandant hat mich gewarnt«, stieß er mit gebrochener Stimme hervor. »Wir hätten abreisen sollen.«
Phrynne schüttelte den Kopf und ergriff seinen Arm. »Wir hätten nirgendwo hingehen können«, sagte sie, ihre Stimme jedoch war schwach vor Angst, und ihre Augen blickten ausdruckslos. »Ich glaube nicht, daß sie uns belästigen werden.«
Rasch zog Gerald die dicken Plüschvorhänge zu, hüllte sie in totale Finsternis. »Wir werden es durchstehen«, sagte er, ein wenig theatralisch in seiner Angst, »ganz gleich, was passiert.«
Er stolperte hinüber zum Lichtschalter, aber die Lampe blieb dunkel. »Kein Strom vorhanden. Laß uns zurück ins Bett gehen.«
»Gerald! Komm, hilf mir.« Er erinnerte sich, daß sie im Dunkeln seltsam hilflos war. Er tastete sich zu ihr hinüber und führte sie zum Bett.
»Keine Liebe mehr«, sagte sie; ihre Stimme klang kläglich und doch zärtlich, und ihre Zähne schlugen gegeneinander.
Er küßte ihre Lippen mit all der Zärtlichkeit, die die Finsternis erlaubte.
»Sie sind zum Meer hin«, sagte sie zaghaft.
»Wir müssen an etwas anderes denken.«
Doch der Lärm auf der Straße nahm weiter zu. Die ganze Gemeinde schien sich durch die Straßen zu wälzen, schien dieselben entsetzlichen Worte wieder und wieder hinauszugehen.
»Glaubst du, das können wir?«
»Ja«, sagte Gerald. »Wir müssen nur
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