Glockengeläut
ausgehen.
Erzähltechnisch entsteht die für Aickman typische Mehrdeutigkeit/Offenheit/›Inconclusiveness‹ dadurch, daß der Protagonist zugleich als Erzähler auftritt, der Leser die Geschehnisse also aus begrenzter Perspektive miterlebt. Stets bleibt die Frage: Wird er, wenn er mit dem Held/Erzähler übernatürliche Phänomene wahrnimmt, in die Gespinste eines kranken Hirns verwickelt - oder aber kommt dem subjektiv Wahrgenommenen objektive Realität zu? (Mit der ihm eigenen Radikalität würde Aickman selbst diese Frage allerdings zurückgewiesen haben - die vielbeschworene Scheidung von objektiver und subjektiver Realität gehörte für ihn in die Archive des Positivismus.)
Aickmans Protagonisten sind mit Haut und Haaren Angehörige der britischen middle class : in ihrer konventionellen, von Verhaltensmustern geprägten Erziehung, in ihrem Verhältnis zum Geld - nie wenig, aber auch nie genug -, in ihrer sozialen und beruflichen Position schließlich.
Den gnadenlos genormten Lebensweg solcher Mittelklassenexistenz durchläuft etwa der Herausgeber des Manuskripts in »Ravissante«; Junggesellen- und Klubleben, Verlobung, Heirat und Familie heißen die unausweichlichen Stationen. Weil sie so typisch, so banal sind, gibt sich Aickman damit zufrieden, sie formelhaft, in Nebensätzen, präsent zu machen. Aber auch sein ›alternativer‹ Lebensentwurf ist in Wahrheit keiner: Avancieren kann der britische petit bourgeois nach Aickmans Ansicht höchstens zum Pseudo-Künstler, zu einem Dilettanten im Sinne Thomas Manns - zu begabt, um ein ›normales‹ bürgerliches Leben zu führen, zu unbegabt, um selbst schöpferisch tätig zu sein. Und so durchstreifen die Aickmanschen Dilettanten unentwegt die Randzonen der Kreativität, leisten Sisyphus-Arbeiten in einer ›Unterwelt der Kunst‹: ob sie nun pornographische Manuskripte lektorieren oder coffee table books herausbringen. Allemal aber bleibt ihnen Zeit genug, sich vor dem andern Geschlecht zu fürchten.
Denn Aickmans Frauenbild kennt nur dunkle Nuancen. In »Glockengeläut« gelangt Kommandant Shotcroft (nicht von ungefähr ausnahmsweise eine Art ›Held‹) zu dem Urteil, alle Frauen seien in ihrem Herzen »Kreaturen der Finsternis«. Solche Finsternis in Muße auszubilden erlaubt ihnen schon ihre Kinderlosigkeit. Aickmans Frauenfiguren üben ausnahmslos keinen Beruf aus, pflegen in Muße Wollust und Morbidität, beziehen aus Totem und Dunklem eine makabre Stimulanz. Man erinnere sich an Phrynnes sehnsüchtig geöffnete Lippen beim Anblick der Wiedererstandenen auf dem Neuen Städtischen Friedhof (»Glockengeläut«) oder auch an Nestas lustvolle Pervertierung zur Raubtierfrau (»Nicht stärker als eine Blume«). In der Erzählung »Ravissante« - der französische Titel spielt übrigens auf eine ›hinreißende‹ Frau an - mag Madame A. ja im Bund mit dem Teufel stehen; das schwarze Hündchen, seit je Begleittier oder sogar Inkarnation des Herrn der Unterwelt, scheint jedenfalls darauf hinzudeuten. Unzweifelhaft aber ist die furchterregende Dame ein Spiegelbild männlicher Ängste vor der sinnlichen Übermacht des Weiblichen. Im Rückraum solcher Spiegelungen zeichnen sich die femme fatale wie auch die Große Mutter als bedrohliche weibliche ›Überfiguren‹ ab.
Aickmans zentrales Thema freilich ist die bürgerliche Scheinexistenz. Er fällt über sie das zutiefst pessimistische Urteil, daß in derlei Lebensläufen weder Glück noch Erfüllung zu gewinnen sind. Eine besonders wütende Demontage kindlicher Glückshoffnungen bietet die Erzählung »Derselbe Hund«. Im »Hospiz« begegnet ein erschöpfter, versehrter Dienstreisender einer geschlossenen Welt, in der sich das Leben in der bloßen Erhaltung seiner selbst erfüllt. Nur der Tod gewährt Ausgang aus fensterlosen Räumlichkeiten, aber nicht einmal er verspricht Transzendenz. Mit seinem überheizten Speisesaal ist dieses Hospiz für die übersättigten Insassen, die in gruftartiger Isolation gehalten werden, gleichsam die Hölle, jedenfalls ein Fegefeuer - zugleich aber erscheint die obskure ›Herberge‹ als ein satirisches Abbild bürgerlicher Lebens›kultur‹. Ähnliches gilt für den Stenotypistinnenalltag im Büro des Mr. Millar. In Mr. Millar selbst findet der Erzähler, der in einer Dachmansarde ein äußerst reduziertes Dasein führt, ein halbes Leben nur lebt als Redakteur obszöner Texte und als heimlicher Liebhaber einer verheirateten Frau, wie in einer Projektionsfläche seine
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