Glockengeläut
es durch hat, fängt er wieder von vorne an.«
»Soll ich es ihm hochbringen?« fragte Gerald. Weder Höflichkeit noch Neigung bewegten ihn zu diesem Vorschlag, vielleicht mehr die Furcht, der Kommandant könne in die Lounge zurückkehren, zugleich aber auch das Verlangen, ihn nach den Augenblicken des Nachdenkens ins Kreuzverhör zu nehmen.
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, entgegnete Mrs. Pascoe, so als sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen. »Zimmer Numero Eins. Direkt neben der japanischen Rüstung.« Sie fuhr fort, die Kissen aufzuschütteln. Geralds strapazierten Nerven schien ihr Verhalten bemüht normal.
Er nahm das Buch und machte sich auf den Weg nach oben. Der Wälzer besaß einen - echten - Ledereinband und Goldschnitt, offenbar eine Geschenkausgabe. Draußen vor der Lounge warf Gerald einen Blick auf das Vorsatzblatt: In großen, schwungvollen Buchstaben stand dort »Meinem geliebten Sohn Raglan anläßlich seiner Ehrung durch die Königin. Von seinem stolzen Vater, B. Shotcroft, Generalmajor.« Unter der Widmung prangte ein überaus häßliches, wahrscheinlich mit einem primitiven Stempel aufgedrücktes Militärwappen.
Die japanische Prunkrüstung versteckte sich drohend in einer dunklen Ecke, ganz so wie Kommandant Shotcroft, als Gerald ihm zum ersten Mal begegnet war. Die breite Krempe am Helm warf ihren Schatten auf die schwarzen Augenschlitze; lebensecht stachen die Schnurrbarthaare hervor. Man konnte glauben, jemand stünde Wache vor dem Zimmer. Die Tür trug zwar keine Nummer, doch da sie offenbar die einzige weit und breit war, erklärte Gerald sie für sich zur ›Numero Eins‹. Ein kurzes Stück weiter den schummerigen, leeren Flur entlang befand sich ein Fenster, dessen altehrwürdige Rahmen unter dem Ansturm des Glockengeläuts in ihrer Verankerung bebten. Gerald klopfte energisch.
War er einer Antwort gewürdigt worden, so hatte das Glockengeläut sie verschluckt. Er klopfte ein zweites Mal. Als er auch auf ein drittes Klopfen hin keine Antwort erhielt, öffnete er vorsichtig die Tür. Er mußte in jedem Fall herausbekommen, ob alles gut gehen würde (oder könnte), wenn Phrynne und zweifellos auch er bis zur Morgendämmerung strikt in ihrem Zimmer ausharrten. Er blickte in den Raum und hielt den Atem an.
Kein künstliches Licht brannte, doch die Vorhänge, wenn es welche gab, waren von dem einzigen Fenster des Raums zurückgezogen und die untere Fensterhälfte, so weit wie möglich hochgeschoben. Auf dem Boden inmitten der nebelhaften Leere, des saugenden Mahlstroms der Glocken kniete der Kommandant; sein militärisch kurzgeschnittenes weißes Haar fing den mondlosen Schimmer von draußen ein, sein Kopf lag auf dem Fensterbrett wie das Haupt eines Mannes, der guillotiniert werden soll. Das Gesicht ruhte in den Händen, war jedoch leicht seitwärts gedreht, so daß Gerald immerhin ein schattenhaft verzerrtes Bild der Mimik erhaschte. Man hätte sie ekstatisch nennen können, doch wollte es Gerald scheinen, als leide der andere Höllenqualen. Dies ängstigte ihn mehr als alles, was bisher geschehen war. In dem engen Raum klangen die Glocken wie das Brüllen angreifender Löwen.
Geraume Zeit stand er dort, unfähig sich zu bewegen. Es war unklar, ob der Kommandant seine Anwesenheit bemerkt hatte. Ein unmittelbares Anzeichen dafür gab es jedenfalls nicht, mehr als einmal jedoch wand sich sein Körper bebend in Geralds Richtung, so als ob ein unruhiger Schläfer durch einen Eindringling in noch größere Unruhe versetzt würde. Gerald war sich im Zweifel, ob er das Buch im Zimmer ablegen sollte, entschloß sich dann aber doch dazu, hauptsächlich, weil er es unter allen Umständen loswerden wollte. Er schlich in den Raum und legte es behutsam auf einer im Dämmer kaum sichtbaren hölzernen Truhe am Fußende des schlichten, eisernen Bettgestells nieder. Weitere Einrichtungsgegenstände schien es in dem Zimmer nicht zu geben. Als er den Raum verließ, streiften die hängenden Fingerschienen der Rüstung sein Handgelenk.
Er war der Lounge zwar nicht besonders lange ferngeblieben, lange genug aber für Mrs. Pascoe, die sich jetzt wieder dem Alkohol ergab. Die Aufräumarbeiten hatte sie nur halb erledigt, oder, genauer gesagt, den Raum in halber Unordnung belassen; nun lehnte sie am Kamin, einen dunkel getönten Schwenker mit Whisky in der Hand, dem sie fleißig zusprach. Phrynne hatte ihre Tasse noch nicht ausgetrunken.
»Wann hören endlich die Glocken auf?« Die Frage brach aus
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