Glockenklang von Campanile
hast du bereits kennengelernt. Vergiss sie alle. Es gibt noch eine ganze Menge von ihnen.”
“Spionieren sie uns nach?”
“In Venedig nennt man es nicht Spionieren. Bezeichne es als Familieninteresse. Der Mann, der sich dort aus dem Fenster lehnt, ist mein ältester Bruder Ruggiero.”
“Du meinst … gestern Abend …?”
“Ganz Venedig weiß es inzwischen”, gab er zu. “Das Küken hat sich endlich verlobt.”
“Aber wir sind doch nicht wirklich … Ich meine, es war nur …”
“Da kommt ein Boot”, sagte er hastig. “Lauf.”
Er packte ihre Hand und eilte auf den Anleger zu, wo das Wassertaxi gerade anlegte. Der Fahrer begrüßte ihn mit Namen und fragte dann: “Murano, ja?”, ohne dass Francesco ein Wort gesagt hatte. Francesco war offensichtlich in ganz Venedig bekannt wie ein bunter Hund.
Die Insel Murano lag auf der anderen Seite der Lagune. Als der Fahrtwind Sonia durchs Haar strich, hatte sie das Gefühl, direkt in die Sonne zu fahren. Das Sonnenlicht hüllte sie ein, glitzerte auf dem Wasser, tanzte in der Entfernung und lockte sie auf eine wunderschöne, aufregende Reise. Sie lachte laut, schaute in Francescos Augen und streckte eine Hand nach ihm aus.
In der Manufaktur war es brutheiß. Glas wurde dort nach traditionellen Methoden hergestellt, die als Geheimnis gehütet wurden. Fasziniert schaute sie zu, wie einer der Männer eine Vase herstellte, indem er die heiße Glasmasse drehte und gleichzeitig aufblies.
So bemerkte sie auch den anderen Mann nicht, der rasch eine Skizze von ihr anfertigte, während sie zuschaute, aber später sah sie dann eine Tafel mit ihrem eingeätzten Porträt. Das perfekte Ende eines perfekten Tages. Fast zu perfekt, zu romantisch, zu viel von allem? Hatte sie sich diese Frage schon damals gestellt? Oder war sie einfach verzaubert gewesen?
In ihrem Leben hatte es so wenig davon gegeben. Konnte sie sich wirklich Vorwürfe machen, weil sie in einem schwachen Moment nachgegeben hatte? Oder sollte sie diese wenigen märchenhaften Tage wirklich bedauern, wo sie so glücklich gewesen war?
Zum Mittagessen kehrten sie ins Zentrum zurück, schlenderten durch die Straßen, bis sie ein kleines Restaurant fanden. Und überall hatte Sonia das Gefühl, begutachtet zu werden. Einmal winkte ihnen eine dunkelhäutige Frau kurz zu und verschwand dann wieder.
“Meine Schwägerin Wenda”, erläuterte Francesco. “Sie stammt aus Jamaika.”
“Vermutlich bist du auch mit der jungen Asiatin verwandt, die uns von dem Stand dort drüben beobachtet”, meinte sie trocken.
“Das ist Lin Soo. Sie stammt aus Korea und ist mit meinem Onkel Benito verheiratet.”
Sonia lachte hell auf. “Hat denn jemand aus deiner Familie überhaupt einen echten Venezianer geheiratet?”
“Einer oder zwei. Aber wir kommen viel herum und bringen uns dann unsere Bräute von dort mit. Wenn wir alle zusammensitzen, sieht es aus wie eine Sitzung der UNO.”
Sie aßen in der kleinen Trattoria, dessen Besitzer Francesco natürlich wieder per Namen begrüßte. Inzwischen hatte Sonia sich schon fast daran gewöhnt.
“Du scheinst wirklich jeden in Venedig zu kennen!”
“Es scheint nicht nur so, es ist so. Schließlich habe ich hier mein Leben lang gelebt.”
“Ich wohne seit meiner Geburt in London, kenne aber dort niemanden.”
“Weil London eine Millionenstadt ist. Venedig nennt sich zwar auch Stadt, ist aber eigentlich ein größeres Dorf. Wenn du den Weg kennst, gelangst du innerhalb einer halben Stunde von einem Ende zum anderen und triffst an jeder Straßenecke Freunde.”
Sein Handy meldete sich, als sie ihren Kaffee tranken. Die leise geführte Unterhaltung bestand von seiner Seite aus nur aus: “
Si, Poppa
…
si, Poppa!”
Nachdem er aufgelegt hatte, verkündete er: “Ich habe den Befehl bekommen, dich heute Abend zum Essen mitzubringen.”
“Ein Befehl deines Vaters?”
“Du liebe Güte, nein! Meiner Mutter! Er hat ihr nur als Sprachrohr gedient.”
Sie war amüsiert. “Und wenn ich etwas anderes vorhabe?”
“Ich hatte auch etwas anderes vor, aber wenn
Mamma
etwas sagt, springen alle.” Er sah, dass sie ihn mit seitwärts geneigtem Kopf prüfend anblickte. “Es ist besser, wir tun, was meine Mutter sagt …”
“Also gut, unter einer Bedingung”, lenkte sie ein. “Du musst mich in der Gondel hinfahren.”
“Gondeln sind nur für Touristen!”, protestierte er. “Sie machen Rundtouren, und mein Elternhaus liegt nicht an der Strecke.”
“Du hast also
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