Glockenklang von Campanile
keinen Gondolierefreund, der für dich eine Ausnahme macht?”, zog sie ihn auf.
Selbstverständlich hatte er einen entsprechenden Freund. Marco und er waren zusammen zur Schule gegangen, und Marco machte nur zu gern eine Sondertour für ihn.
“Wie schafft er es bloß, das lange Boot mit nur einem Ruder von der Stelle zu bekommen?”, wunderte sie sich. “Eigentlich müssten wir uns im Kreis drehen.”
“Die eine Seite des Bootes ist länger als die andere”, erklärte ihr Francesco mit aufrichtiger Miene.
“Also, wirklich …”
“Ehrlich. Sie wölbt sich weiter nach außen als die andere Seite, und das gleicht es aus. Es ist wie alles in Venedig, wie die Venezianer selbst. Widersprüchlich.”
Sonia fing an zu lachen. Francesco lachte mit ihr, und irgendwann lag ihr Kopf an seiner Schulter, als sie langsam auf den Rio di St. Barnaba zuglitten, wo seine Eltern wohnten.
Marco half ihnen beim Aussteigen und blickte Sonia dabei bewundernd an. Sinnend schaute er den beiden hinterher und griff schließlich zu seinem Handy, um die Neuigkeit zu verbreiten, dass wieder ein guter Mann am Haken hing.
Die Gondeln fuhren nicht mehr. Auf dem Canale Grande tuckerten geräuschvoll zahlreiche
vaporetti
auf und ab. Weihnachten stand vor der Tür, und die letzten Vorbereitungen wurden getroffen. Und doch war es in den Straßen seltsam friedlich. Keine Fahrzeuge, nur Menschen, lächelnd, die stehen blieben und sich unterhielten, ihren Einkaufsmarathon für einen schnellen Besuch in einer Bar unterbrachen.
An der Straßenecke befand sich eine Bar, ihr Licht überstrahlte das schwache Straßenlicht. Fröhliches Stimmengewirr drang heraus.
“In der Regel trinke ich hier vorher immer einen Kaffee”, sagte Francesco.
“Schön.” Sie war froh, die Begegnung mit der Familie noch ein wenig hinauszögern zu können.
Als sie hineingingen, fing es gerade an zu schneien. Sie setzte sich an einen der Tische, während Francesco den Kaffee holte. Italienische Bars waren so ganz anders als englische oder amerikanische. Man bekam dort Bier und Wein, Eiscreme und Kuchen, und oft sah man ganze Familien sich darin vergnügen.
Heute war der Raum voller Gäste, die um die kleinen Tische herumsaßen und sich fröhlich gegenseitig
Buon natale
und auf Venezianisch
Bon nadal
Weihnachtsgrüße zuriefen.
Lautes Gelächter lenkte Sonias Aufmerksamkeit zu einem der Tische in der Ecke, und sie erkannte Francescos Tante Lin Soo.
Ihre Kinder, beide um die zehn Jahre alt, saßen neben ihr. Die dunklen Kinderaugen leuchteten auf, als sie Sonia erkannten. Rasch sprangen sie auf und rannten mit ausgestreckten Armen auf sie zu. “Tante Sonia!”
Auch Lin Soo kam heran, ihr folgte Teresa, Giuseppes Frau.
“Wir waren gerade bei
Mamma”
, erklärten sie. “Hinterher gehen wir immer hierher.”
Diese Bemerkung sagte genug. Sonia warf Francesco einen viel sagenden Blick zu. Er parierte mit unschuldsvoller Miene.
“So ein Zufall”, murmelte sie. Aber sie war froh, die beiden Frauen zu sehen, denn sie hatte sie von Anfang an gemocht. Das Gespräch drehte sich natürlich um
Mamma
und den bösen Zauber – natürlich kein Herzanfall –, der sie ins Krankenhaus gebracht hatte.
“Wir hatten gedacht, nach ein paar Tagen kommt sie wieder raus”, klagte Lin Soo, “aber sie liegt einfach da, als wäre sie zu müde zu gehen.”
Auffällig taktvoll verloren sie kein Wort über Sonias Schwangerschaft, und Sonia vermutete, Tomaso hatte sie gewarnt.
Nach ein paar Minuten gingen ihre Schwägerinnen, obwohl Francesco sie gedrängt hatte, doch zu bleiben.
“Halt sie nicht auf”, sagte Sonia, als sie gegangen waren, und fügte amüsiert hinzu: “Sie müssen
Poppa
anrufen und ihm melden, dass wir gleich da sind.”
“Das habe ich bereits getan, während ihr euch unterhalten habt”, gestand er.
Da musste sie lachen. “Es ist fast so, als würde man von der CIA beobachtet werden.”
“Aber nicht ausspioniert”, sagte er rasch. “Überwacht. Sie sind einfach nur begeistert, dass du hier bist. Gute Neuigkeiten verbreiten sich schnell.”
Sonia verzichtete auf eine direkte Antwort. “Ich erinnere mich an den Abend, als du mich das erste Mal mitnahmst, damit ich alle kennenlerne. Ich kannte keinen von ihnen, aber alle wussten, wie ich aussah. Überall in Venedig beobachtete uns ein Bartini und gab die Meldung gleich weiter. Einen solch perfekten Überwachungsdienst habe ich noch nie erlebt.”
“Mein Vater war besonders gespannt darauf, dir
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