Glück, ich sehe dich anders
Tagen ihres Lebens viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Doch sie hielt alles sehr gut aus und entwickelte sich laut Ärzten und Krankenschwestern gut. Es wurde ein kleines Loch im Herzen, ein so genannter Ventrikelseptumdefekt, diagnostiziert, das später in einer Kinderklinik für Herzkrankheiten gründlicher untersucht werden sollte. Doch akut drohte deshalb keine Gefahr, und weitere Organschäden wurden auch nicht festgestellt.
Als Rolf wieder arbeiten und nur am Abend mit in die Klinik kommen konnte, war ich gezwungen, Louise allein zu besuchen. Im Schneckentempo fuhr ich durch unser Dorf in Richtung Stadt und zur Klinik, durch die Schranke an der Einfahrt und auf den Parkplatz. Das Betreten der Klinik und der Weg durch die vielen Glastüren fielen mir unendlich schwer. Mit der abgepumpten Milch in der Hand stand ich dann zuerst zögernd vor der Tür zur Intensivstation: Hände desinfizieren, Schutzkittel überziehen, hinein in das Zimmer. Mir blieb keine andere Wahl.
Wenn Louise schlief, war es für mich in Ordnung. Schrie sie – vor Hunger oder aus anderen Gründen -, wäre ich am liebsten weglaufen. Dann dachte ich, sie schreit, weil sie behindert ist. Das war grauenvoll!
Ich merkte aber, dass ich die Diagnose von Tag zu Tag ein wenig besser verarbeiten konnte, gerade weil ich diese schweren Schritte allein gehen musste. Und nach einer Woche hatte ich mich so weit gefangen, dass ich es morgens manchmal kaum erwarten konnte, so schnell wie möglich zu Louise zu fahren.
Entsetzt war ich, als Louise eines Morgens mit verbundenen Augen nackt auf dem Bauch in ihrem Wärmebettchen unter einem blauen Licht lag. Im Mund steckte ein Schlauch, und aus ihrem Po lief eine rotbraune Flüssigkeit. Ich hatte Angst, und mir zitterten die Knie. Ich malte mir aus, dass sie innere Blutungen hatte, und ich war sicher: Jetzt ist es so weit, sie muss sterben. Gleich ist alles vorbei.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich von einem Arzt über die Maßnahme aufgeklärt wurde. Das blaue Licht diente dazu, Louises Bilirubinwert – Louise hatte eine Gelbsucht -zu senken. Und die rotbraune Flüssigkeit war lediglich ein Kontrastmittel, das ihr durch den Mund über eine Magensonde gegeben wurde, um zu sehen, ob die Flüssigkeit, die sie anfangs immer erbrochen hatte, durch den Magen-Darm-Bereich gelangte und ausgeschieden wurde. Also doch nicht so schlimm. Louise würde nicht daran sterben.
Die Herzuntersuchung ein paar Tage später ergab, dass Louises Herzfehler nicht stark ausgeprägt war, eine Operation war nicht nötig.
ETWAS MÜTTERLICHES
I ch war froh, als Louise endlich ohne Kabel und Schläuche in ihrem Wärmebettchen lag. Ich betrachtete sie genauer und fand, sie sah niedlich aus. Zum ersten Mal empfand ich etwas Mütterliches für sie. Von nun an ertappte ich mich öfter dabei, dass ich über ihren drolligen Gesichtsausdruck schmunzeln musste. Wenn ich ihr Grinsen sah, dachte ich, sieh mal, sie lacht doch, da ist ein kleiner Mensch, der lacht. Und diesen kleinen Menschen habe ich geboren.
Auf einmal waren Rolf und ich glücklich, wenn Louise Fortschritte machte, zum Beispiel, als ihre Windeln immer häufiger voll kleiner Häufchen waren, weil sie ihre Nahrung nun verdaute wie jedes andere Kind. Doch die Bande, die ich zu meinem Kind geknüpft hatte, waren noch sehr zart. Deshalb musste ich zuerst auch schlucken, als mich die Ärztin fragte, wann wir Louise denn mit nach Hause nehmen wollten. Aber dann lachte ich die Ärztin an und tat so, als würde ich mich über ihre Frage freuen. Doch tatsächlich hatte ich große Angst vor dem Alleinsein mit Louise.
Rolf und ich versuchten, Louises Entlassung aus der Klinik so weit wie möglich hinauszuschieben. Wir verhandelten über den Termin mit der Ärztin wie bei einem Fernseher, den man in einer Kleinanzeige erworben hatte und den man selbst abholen musste. Wir wollten Louise auf keinen Fall tagsüber mitnehmen. Ohne weitere ärztliche Aufklärung über die Behinderung unserer Tochter holten wir Louise nach zwei Wochen Intensivstation an einem Abend zu uns nach Hause.
Wir legten sie im Wohnzimmer auf die kuschelige Janosch-Decke, die ich schon vor Wochen für mein Baby ausgesucht hatte. Die Decke passte irgendwie gar nicht zu Louise. Überhaupt schien alles so perfekt: die Rasseln, die Teddybären, die Spieluhr, die nagelneue Babybadewanne, die Nuckelflaschen, die süßen Strampelanzüge – nur das Kind, das dort lag, war nicht perfekt.
VORURTEILE
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