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Glück, ich sehe dich anders

Glück, ich sehe dich anders

Titel: Glück, ich sehe dich anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Ahrens
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achdem wir Louise zu uns geholt hatten, mochte ich die Klinik erst einmal nicht mehr betreten und meldete mich kurz darauf von der Rückbildungsgymnastik, die dort stattfand, ab. Vielleicht empfand ich es auch als anstrengend genug, uns das Leben mit Louise einzurichten, da war für körperliche Ertüchtigung kein Platz.
    Es war mir eine Hilfe, dass unsere Familien und Freunde die Behinderung von Louise sehr gut aufnahmen. Doch Bekannte und Nachbarn reagierten teilweise sehr verletzend.
    Als ich einem entfernteren Bekannten zum Beispiel sagte, dass Louise leider nicht ganz gesund auf die Welt gekommen sei, rief dieser ungehalten: »Die hätten sie gleich gegen die Wand klatschen sollen! Wie bei Tieren, die nicht in Ordnung sind.«
    Ich war zunächst sprachlos. Wie konnte jemand so etwas von sich geben? Ich fragte mich, in welcher Zeit wir eigentlich lebten. Solch ein Ausspruch im Jahr 1998? Dieser Mensch - dem Menschlichkeit allerdings nicht viel zu bedeuten schien - nahm sich die Frechheit heraus, über mein hilfloses Kind mit so viel Abscheu zu sprechen, Handlungen zu verlangen, die man auch keinem Tier zumuten mochte.
    Andere waren der Meinung, dass man die Augenstellung operativ richten lassen könne und die Zunge kürzen, dann sei es doch gar nicht so schlimm.
    Aber warum musste alles »normal« aussehen? Was ist denn überhaupt »normal«? Mein eigenes perfektes Weltbild war nachhaltig ins Wanken geraten. Jetzt hinterfragte ich solche Ansprüche.
    Eine Frau sagte: »Diese Menschen sind etwas verrückt, aber ganz lieb!«
    Ja, aber sind wir nicht alle etwas verrückt? Was heißt »verrückt sein« denn genau? Vielleicht, dass etwas an eine andere Stelle gerückt ist, also einfach nur verschoben?
    Seltener hörten wir Positives, wie zum Beispiel »Solche Kinder werden nur in ganz besondere Familien hineingeboren«. Doch auch diese Worte wusste ich nicht genauer zu deuten. Warum waren wir besonders? Wir hatten uns doch nur eine große, glückliche Familie gewünscht.
    Durch Louise wurde mein Blick für »Randgruppen« geschärft. Ich achtete auf so genannte »sozial schwache Menschen« und stellte schließlich fest, dass sich durch Louises Geburt meine Ansichten grundsätzlich änderten. Waren nicht diejenigen genau die »Randgruppen« und »im Kopfe sozial schwache Menschen«, die zum Beispiel über Behinderte oder Homosexuelle abfällig urteilten?
    Ich erinnerte mich an einen Ausflug ans Meer, als ich ungefähr fünf Jahre alt war. Am Strand spielten behinderte Kinder. Mein Vater rief mir zu: »Komm da weg!«
    In unserer Straße gingen öfter die Behinderten eines Wohnheims mit ihren Erziehern spazieren. Die Behinderten gaben unverständliche Laute von sich. Als Kind lief ich jedes Mal schnell fort, wenn sie mir begegneten.
    Im Schwimmbad mochte ich nicht zusammen mit Behinderten baden. Ich ekelte mich vor ihnen, war der Meinung, sie würden stinken und seien ungepflegt. Und eine Schulkameradin erzählte mir einmal, dass die Behinderten in einer nahe gelegenen Werkstatt die Schokolade, die ich gerade verspeiste, in Päckchen packen würden. Da warf ich die Schokolade weg.
    Ich war so erzogen worden.
    Ich war nie direkt mit Behinderten in Kontakt gekommen, hatte in der Schule darüber nicht viel gelernt. Wir hatten zwar das Thema »Mongolismus« durchgenommen, aber hängen geblieben waren nur ein paar Vorurteile: Mongolismus sei auf Inzucht, also Sexualverkehr zwischen Geschwistern oder anderen nahen Verwandten, zurückzuführen.
    Wir Schüler lachten damals hinter vorgehaltener Hand und machten nach der Stunde lautstark unsere Spaße.

LEBEN MIT
EINEM BEHINDERTEN KIND
    N ach einigen Wochen mit Louise zu Hause fing ich mich etwas, fühlte mich aber immer mal wieder plötzlich wie gelähmt. Es kostete mich an manchen Tagen unendlich viel Kraft, nur eine Scheibe Brot abzuschneiden. Kleinste Handgriffe, die ich zu verrichten hatte, fielen mir dann schwer, und ich nahm sie nur schleppend in Angriff. Ein Grauschleier war vor meinen Augen, meine Umgebung nahm ich kaum wahr. Oft stand ich heulend unter der Dusche und schlug mit dem Kopf gegen die Wand.
    Warum gerade wir?, fragte ich mich dann. Warum hat es nicht die Frau getroffen, die vor mir entbunden hatte? Warum nicht die, die nach mir in den Kreißsaal geschoben worden war?
    Tatsächlich zweifelte ich an mir. Ich war nicht in der Lage, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen! Das war kein Kind, wie es sein sollte!
    Richtig Mutter sein konnte ich nicht. Ich hatte

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