Glück, ich sehe dich anders
PROLOG
K ennen Sie Mongo-Kinder?«, fragte uns der Kinderarzt der Entbindungsstation einen Tag nach Louises Geburt. Er meinte Kinder, die mongoloid sind, Kinder mit einem Down-Syndrom. Der Arzt hatte unsere Tochter auf dem Arm und sah Rolf und mich wissend an.
Ich ahnte nichts Gutes.
Der Arzt zeigte auf ein anderes Baby. »Vergleichen Sie einmal! Ihr Kind sieht etwas komisch aus! Anders! Finden Sie nicht?«
Rolf und ich waren starr vor Entsetzen.
»Ihr Kind ist nicht gesund!«, sagte der Arzt jetzt.
Die Schmerzen von der Geburt waren auf einmal wie weggeblasen. Ich stand wohl unter Schock.
Der Arzt fuhr fort: »Das sind ganz liebe Kinder. Ich kenne eine Werkstatt, dort arbeiten dreißig solcher Kinder. Das ist ganz toll dort. Die bekommen auch alle einen Behindertenausweis.«
Was hatte der Arzt gesagt? Unser Kind sieht »komisch« aus? Er selbst – mit schief gelegtem Kopf auf uns einredend -war mit seinen fettigen Haaren und den hervorstehenden Augen hinter den dicken Brillengläsern auch nicht gerade als attraktiv zu bezeichnen.
Wie ein Film lief das alles vor mir ab, und ich dachte nur: Ein geistig behindertes Kind? Ein Pflegefall? Nie wieder zur Arbeit? Das schreit bestimmt ständig oder gibt eigenartige Laute von sich. So ein Kind passt doch nicht in unsere heile Welt!
Während der Arzt uns »aufklärte«, betrachtete ich Louise fassungslos. Sie sah tatsächlich eigenartig aus. So aufgedunsen, ihre Haut schimmerte blau, sie erschien mir beinahe leblos. Die dicken Augen standen schräg im Gesicht, und die Zunge hing aus dem Mund heraus.
Louise kam nach dem Gespräch sofort wieder auf die Intensivstation. Ich ging zurück in mein Zimmer zu den anderen drei Müttern, die dort in ihren Betten saßen und ihre niedlichen, gesunden Babys bei sich hatten. Kurz darauf erhielt ich ein Einzelzimmer; ich konnte den Anblick der anderen Mütter und Kinder nicht ertragen.
Rolf und ich waren hochgradig deprimiert. Wir hatten beide die gleichen Gedanken: Wir sind zu jung für eine solche Aufgabe. – Rolf war gerade mal vierundzwanzig, ich sechsundzwanzig. – Es wäre besser für Louise, wenn sie nicht überlebt.
Doch dies waren nur Schutzbehauptungen, dahinter verbarg sich der Wunsch nach einer perfekten Familie: Es wäre besser für uns, wenn Louise nicht überlebt. Dann bekommen wir ein neues Kind, und alles wird gut.
HEILE WELT
A uf einem Open-Air-Festival im September 1993 lernte ich Rolf kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir konnten uns stundenlang unterhalten und stellten fest, dass wir viele gemeinsame Vorstellungen vom Leben hatten und die gleichen Träume: in andere Länder reisen, irgendwann einmal heiraten, viele Kinder haben und ein Haus auf dem Land bauen. Wir verbrachten schon bald fast jeden Tag miteinander, und es war uns beiden schnell klar, dass unsere junge Liebe keine flüchtige Bekanntschaft bleiben würde.
Kurz nach unserem Kennenlernen trat Rolf seinen Dienst bei der Bundesmarine an. Vier Jahre lang waren wir oft für mehrere Monate getrennt. Ich ertrug das Alleinsein manchmal nicht. Trotzdem hielt unsere Beziehung diesen harten Proben stand, und als Rolf seine vier Jahre Dienst beinahe beendet hatte, mieteten wir uns ein Häuschen in einem idyllischen Dorf im hohen Norden, nicht weit weg von unseren Familien und Freunden.
Ich arbeitete damals als Büroangestellte in einem kleinen Betrieb, in dem ich mich sehr wohl fühlte, und Rolf fand ebenfalls eine Anstellung in der Nähe, in einem Handwerksbetrieb. Gemeinsam reisten wir zu den schönsten Orten auf dieser Welt, vor allem unseren Urlaub in Irland werden wir nie vergessen. Wir mieteten ein Auto und fuhren die gesamte Westküste ab – vor allem von der irischen Landschaft waren wir sehr angetan. Übernachtet haben wir in Bed-&-Breakfast-Unterkünften. Rolf und ich genossen unser sorgenfreies Leben und harmonisches Zusammensein.
All unsere Wünsche und Träume schienen sich nach und nach zu erfüllen. Und so planten wir, unsere Hochzeit im Mai 1998 zu feiern. Dass ich bereits im siebten Monat schwanger vor dem Traualtar stehen würde, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet, denn es gab bis zum vierten Monat kein eindeutiges Anzeichen für eine Schwangerschaft. Meine Periode blieb nicht aus, und Beschwerden wie Übelkeit setzten erst im dritten Monat ein. Mein Hausarzt schickte mich zwar zum Frauenarzt, doch der hielt einen Schwangerschaftstest nicht für nötig. Schließlich wurde eine Magenschleimhautentzündung
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