Glück, ich sehe dich anders
Familienmitglieder waren herausgeputzt in der Kirche erschienen und schauten uns bloß voll Mitleid an. Sie schmückten das Taufbecken mit teuer erstandenen langstieligen roten Rosen.
Rolfs Schwester Britta und ihre beiden Töchter, Louises Cousinen Lea und Julia, schmückten das Taufbecken mit unseren aus dem Garten gepflückten Gänseblümchen und Margeriten. Doch in dem Meer aus Rosen gingen sie unter.
Ich fühlte mich neben dieser Familie ins Abseits gedrängt. Ich stand da, Louise auf dem Arm. Louise erbrach einige Male, während die Pastorin ihre Predigt hielt. Louises schönes blaues Kleidchen war voll von Erbrochenem. Ich fühlte mich nicht wohl; die Feierlichkeit verkümmerte für mich zu einer Pflichtveranstaltung. Dabei hatte mir so viel daran gelegen, alles das zu tun, was auch Eltern mit gesunden Kindern taten. Eine Taufe gehörte nun einmal dazu – und ein Taufspruch. Diesen hatten wir für unser Kind ausgesucht:
Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht finden.
Als Louise zum Schluss der Kirchenveranstaltung in ein buntes Bettlaken gelegt wurde, auf dem große und kleine Hände in allen möglichen Farben aufgedruckt waren, fühlte ich mich wieder etwas besser. An den vier Enden durften jeweils die Eltern von Rolf und meine Eltern das Laken halten. Sie wiegten Louise stolz hin und her, und die Kirchenorgel spielte das Lied Weißt du, wie viel Sternlein stehen? Louise strahlte, und sie sah so zufrieden aus. Ich hätte der anderen Familie am liebsten zugerufen: Seht doch, wie glücklich sie ist, wie wundervoll sie ist! Glaubt ihr nicht, dass dieses Kind ein Geschenk des Himmels ist? Schaut uns nicht so mitleidig an! Ihr mit euren gesunden Schickimicki-Kindern seid mir völlig gleichgültig.
Ich mochte es eigentlich nicht, wenn Eltern ihre behinderten Kinder besonders heraushoben, ihnen Kosenamen gaben wie »Glückskind« oder »Sonnenschein«. Mir kam es so vor, als wollten sie damit die Realität vertuschen. Aber auch Louise wurde doch ein »Glückskind« für uns – das mussten wir nur erst begreifen. Und dieses Empfinden war kein Vertuschen der Realität, sondern ein gutes und wahrhaftiges Gefühl.
Louise bekam wunderschöne Geschenke zu ihrem Ehrentag. Meine Mutter – Oma Hannelore – schenkte ihr zum Beispiel ein Armband, in das »Louise« eingraviert war. Das war ein passendes Geschenk für Oma Hannelore, die wir auch »Oma Glitzer-Flitzer« nennen. Meine Mutter trägt gern Schmuck, und ihre Hände zierten wenn möglich lange, schrill lackierte Fingernägel, auch einen Brilli hatte sie damals in der Nase. Louise gefiel das.
Louises Patenonkel wurde ihr Onkel Sönke, Rolfs Bruder. Leider sahen wir ihn viel zu selten, da er im weit entfernten Karlsruhe lebt. Wenn er aber in den hohen Norden reiste und uns besuchte, erzählte er Louise mit seiner faszinierenden Stimme, die wie geschaffen war fürs Erzählen, Geschichten. Er brachte ihr bei seinen Besuchen immer ein Buch mit oder eine andere Überraschung. Wir würden Sönke viele Fotos von Louise schicken, damit er ihre Entwicklung anhand der Bilder und durch unsere Beschreibungen Woche für Woche miterleben konnte.
Louises Patentante wurde meine Schwester Sammy. Sie hatte lange blonde Haare, die Louise sehr gefielen. Louise spielte gern mit Sammys Haaren, hielt sie oft fest zwischen ihren kleinen weichen Fingern, wenn sie bei ihr auf dem Schoß saß.
Wie bei der Taufe schämte ich mich noch häufig wegen meines behinderten Kindes vor anderen Eltern mit gesunden Kindern. Wenn Rolf und ich mit Louise allein waren, fühlte ich mich wohl. Dann fand ich sie wunderschön, ihr Lachen war herzerfrischend. Ich konnte die Behinderung mit der Zeit immer besser akzeptieren. Wenn aber Fremde um mich herum waren, hatte ich stets das Gefühl, ich müsse mich rechtfertigen oder allen erklären, das s ich oder wir nicht schuld sind, dass Louise »so« geboren wurde. Ging ich mit Louise durch das Dorf spazieren, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich meinte, die Leute würden mich verstohlen beobachten. Nur wenige Menschen warfen einen offenen, herzlichen Blick in meinen Kinderwagen. Ich merkte schließlich, dass viele Menschen unsicher waren im Umgang mit der Mutter eines behinderten Kindes. Wenn der Bann erst einmal gebrochen war, wurde ich jedoch mit Fragen überhäuft.
Einige Fremde behaupteten, man würde Louise die Behinderung überhaupt nicht ansehen. Ich vermute, sie wollten mich
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