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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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mir auf der 173?«
    »Nein!« Ungeduldig, weil man sie nicht verstand, warf Margaret den Kopf zurück wie ein Pferd, das eine Fliege abschüttelt – auch das eine Geste, die ihm sehr vertraut werden sollte. »Queens. Ich bin in Queens aufgewachsen. Ich war an der P. S. 173, aber in Queens!«
    »Ach so.« Enrique begriff nicht recht, warum sie so ungehalten war. »Tja, dann war es wohl Schicksal, dass wir uns begegnet sind«, sagte er im Bemühen, einem banalen Zufall einen romantischen Dreh zu geben.
    »Es kann keine zwei P. S. 173 geben«, verkündete Margaret und sah Bernard an, damit er ihr recht gäbe.
    Nachdem Bernard stundenlang dem Gespräch allenfalls zugehört hatte, weil jedes neue Gesprächsthema Margaret und Enrique zu beflügeln schien, während er selbst immer noch blasser und sein Schweigen immer noch mürrischer geworden war, schien er nun endlich aufzuwachen. Er straffte die schmalen, hängenden Schultern und setzte sich aufrecht hin, was steif und angestrengt aussah, während der große Kopf mit der ungebärdigen Haarkrause wackelte. Es war, als wollte ein Marionettenspieler dem Publikum signalisieren, dass jetzt die Puppe Bernard mit Sprechen dran war. »Kann nicht sein, Enrique. Nie im Leben gibt es in der Stadtzweimal die 173.« Die kleinen braunen, zu dieser vorgerückten Stunde blutunterlaufenen Augen verächtlich auf Enrique heftend murmelte er im Ton unumstößlicher Gewissheit: »Du musst dich mit der Nummer vertan haben.«
    Da offenbarte Enrique Margaret etwas, das er lieber noch verborgen hätte: seinen Jähzorn. »Nein, ich habe mich nicht vertan!«, fauchte er und wäre fast mit dem Holzstuhl hintenübergekippt. Er hielt sich an der Tischplatte fest und brachte dadurch die weißen Kaffeebecher zum Überschwappen. In seinem Kopf tauchte das Bild seines Vaters Guillermo auf, für dessen Körper so mancher und für dessen Temperament jeder Raum zu eng schien, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Margaret ihren Kaffeebecher packte, damit er nicht umfiel, und sich vom Nachbartisch eine Papierserviette zum Aufwischen griff. Ihre Bewegungen schienen ihm eine deutliche Warnung: Er ließ sich von seiner Wut davontragen, was keine Frau, geschweige denn eine so fröhliche, attraktiv finden würde. Ihre gute Laune war phänomenal. In den fast acht Stunden, die sie jetzt miteinander redeten, hatte sie nie auch nur missbilligend dreingeschaut, ein umso erstaunlicherer Wesenszug, als sie keineswegs schlicht war. Aber die Angst, ihr Wohlwollen zu verspielen, vermochte ihn nicht zu bremsen: »Herrgott noch mal, Bernard, ich habe gegenüber gewohnt! Bis zur sechsten Klasse bin ich auf die 173 gegangen. Ich war dort verdammt noch mal der erste Schülersprecher. Da vertue ich mich doch nicht mit der Nummer!«
    Enrique hatte eine tiefe, volltönende Stimme, eine glückliche Gabe angesichts der Tatsache, dass er mit seinen eins dreiundneunzig knapp sechzig Kilo wog, wobei das glatte schwarze Haar ihm oft wie ein Vorhang ins Gesicht fiel und es noch schmaler machte. Diese Buchenwald-artige Magerkeit, die Haargardine und die großen panzerglasdicken Brillengläser machten es nicht leicht, die warmen braunenAugen, die markanten, klaren Gesichtszüge und die vollen Lippen wahrzunehmen. Nur seine Stimme war männlich genug, um auf Frauen zu wirken. Wenn er jedoch wütend war, klang sie durch die kraftvolle Aussprache einschüchternd und zutiefst verächtlich. Auf Sylvies Liste der Dinge, die ihr am Zusammenleben mit ihm missfallen hatten, stand das ganz oben. Er hatte sie wieder und wieder gebeten, ihm seine verbalen Ausbrüche zu verzeihen, und versprochen, sein Temperament zu zügeln, doch in Wahrheit war er immer noch blind dafür, wie furchteinflößend und gnadenlos er sein konnte. Er empfand seine Wutausbrüche als befreiend, weil er endlich all das herauslassen konnte, was er in sich hineingefressen hatte: Die Angegriffenen lagen nicht einfach nur in diesem oder jenem Punkt daneben, nein, der konkrete Fehler, den er ihnen vorhielt, ergab sich zwingend aus ihren charakterlichen Schwächen und den Mängeln ihrer Sozialisation.
    Doch obgleich er wusste, wie brutal er mit Worten sein konnte (das Hamlet-Zitat »Nur reden will ich Dolche, keine brauchen« tauchte gern in seinem melodramatischen Kopf auf), war er jedes Mal von neuem verblüfft, welche Wunden seine Spitzen schlugen. Für sein Empfinden waren seine Attacken selten und immer nur Notwehr. Sie hätten seine Opfer wohl nicht so tief getroffen,

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