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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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wären diese vorgewarnt gewesen, dass der charmante, nette Enrique mächtig austeilen konnte. Da er sich aber stets solche Mühe gab, seinen Groll zu verbergen, waren Warnzeichen schwer auszumachen.
    Enrique holte tief Luft, um sich selbst am Weiterreden zu hindern, und versuchte bang, an Margarets Gesicht abzulesen, ob sie nun wusste, dass er ein Choleriker war, der seine Freundin in die Arme eines anderen trieb. Gleichzeitig aber war er sich sicher, dass Margaret, wenn sie erführe, was hinter Sylvies Vorwurf »pubertärer Wutanfälle« steckte, erkennen würde, wie falsch diese Sicht seiner Person war. HätteMargaret Sylvie sagen hören, Enrique habe »sich noch nicht von seinen Eltern gelöst«, dann hätte sie bestimmt genau wie er gedacht, dass seine Exfreundin nur die Klischeeweisheiten eines spießigen Seelenklempners wiederkäute. Einen Seelenklempner hätte Sylvie in Enriques Augen durchaus nötig gehabt, weil ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, als sie sechs war, und ihr damit bleibenden Schaden zugefügt hatten; außerdem hatte sie als Malerin eine kreative Blockade und brachte manchmal monatelang kein Bild zustande, allein schon deshalb musste sie, davon war der äußerst produktive Enrique überzeugt, einen verzerrten Blick auf ihn haben. Nach reiflicher Überlegung hatte er nur zu dem Schluss kommen können, dass seine ganzen Anwürfe gegen Sylvie und ihre Freundinnen vollauf gerechtfertigt gewesen waren: auch wenn sein Temperament manchmal mit ihm durchging, hatte er doch recht.
    Als Schriftsteller mochte Bernard ja unfähig sein, aber als Taktiker war er nicht schlecht. Er spürte, in welch explosiver Verfassung Enrique war, und versuchte Feuer an die Lunte zu legen. Er ließ seinen unbequemen Holzstuhl zurückkippen, bis er gegen die Wand stieß, und fixierte Enrique mit demselben hochmütigen Blick, den er am Pokertisch hatte, kurz bevor er ein Siegerblatt aufdeckte. Er lächelte auf seine typische Art, den einen Mundwinkel höhnisch gehoben wie ein jüdischer Elvis Presley. Dann nuschelte er: »Ich bin sicher, du hast recht, Ricky.« Dass er Enriques Namen anglisierte, zeigte nur an, wie zuversichtlich er war, diesen Disput für sich zu entscheiden. »Schließlich irrst du dich nie.« Und in vertraulichem Ton sagte er zu Margaret: »Du musst nämlich wissen, Ricky irrt sich nie und in keinem Fall.«
    »Was zum Teufel soll das heissen?«, brüllte Enrique, ehe er sich eines Besseren besinnen konnte. Er versuchte sich einzureden, dass er nur seine stimmlichen Kapazitäten vorführte, wie es jeder gute Bühnenschauspieler tat, und dassdie sechs Leute an den anderen Tischen deshalb die Köpfe drehten.
    Als er jedoch Margaret ansah, verließ ihn der Mut. Die schimmernden blauen Augen blickten nicht nur schockiert, sondern vor allem abschätzend. Sie weiß es, dachte Enrique, und versank in einem schwarzen Strudel von Selbstekel. Sie weiß, dass ich krank und verängstigt bin, ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann – dieses Urteil, wäre es von jemand anderem gekommen, hätte er als üble Beleidigung von sich gewiesen.
    Nach einigen Sekunden schrecklicher Anspannung, in denen er nur stocksteif dasaß und die Luft anhielt, sagte Margaret in freundlichem, lockerem Ton: »Aber du musst dich irren.«
    Weil er so aufgewühlt war, wusste Enrique einen Moment lang nicht mehr, worüber sie eigentlich stritten. Ging es um die Schande des Imperialismus, die offene Wunde des Rassismus, um die Frage, ob die New York Knicks ohne einen richtigen Center gewinnen konnten, oder um Faulkners hermetische Sprache? Das Thema war ihm gerade völlig gleichgültig. Sollen die Vietnamesen doch alle im Napalm verschmoren, die Schwarzen als Wirtschaftssklaven dahinvegetieren, die Boston Celtics noch achtzehnmal die Basketballmeisterschaft gewinnen und die Großtuer behaupten, Unlesbarkeit sei ein Zeichen von Genialität. Soll doch meinetwegen die Sintflut kommen, solange sich nur dieses köstliche Geschöpf nicht von mir abwendet. Sich das einzugestehen – dass recht zu haben nichts war im Vergleich dazu, bei dieser Frau zu landen – machte ihn endlich ruhiger. Natürlich war die ganze Diskussion absurd. Er war volle sechs Jahre auf die P. S. 173 gegangen. Die Zahl 173 hatte er auf jede Hausaufgabe, jede Klassenarbeit und jedes Sachkundeprojekt geschrieben; als Schülersprecher hatte er die 173 auf das Telegramm gesetzt, mit dem er Senator Robert Kennedyeinlud, bei der Abschlussfeier ihres Jahrgangs eine Ansprache

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