Glücksfall
Bruno.
»Bruno!«, fuhr Artie ihn an.
»Entschuldigung, Helen.« Bruno wusste, was sich gehörte. Er wandte sich ab, aber da hatte ich schon gesehen, dass seine Lippen stumm die Worte »Verpiss dich, du Schlampe« geformt hatten.
Es bedurfte meiner ganzen Selbstbeherrschung, nicht zurückzugeben: »Nein, verpiss du dich, du kleiner Faschist.« Ich war immerhin fast vierunddreißig, sagte ich mir. Und Artie könnte mich dabei sehen.
Das Aufleuchten meines Handys lenkte mich ab. Eine neue Nachricht. Mit einem interessanten Betreff: »Untertänigst«. Dann sah ich, wer sie geschickt hatte: Jay Parker. Beinah hätte ich das Telefon fallen lassen.
»Liebste Helen, mein kleiner Drachen. Obwohl es mich fast umbringt, es zu sagen: Ich brauche deine Hilfe. Wie wär’s, wenn wir die Vergangenheit begraben und du dich bei mir meldest?«
Eine Ein-Wort-Antwort reichte. Ich brauchte keine Sekunde, um sie zu tippen. »Nein.«
Ich erlaubte Bella, mit meinen Haaren zu spielen, und trank meinen Baldriantee, ich sah den Devlins zu, wie sie ihr Puzzle zusammensetzten, und ich wünschte mir, dass alle – ausgenommen Artie, natürlich – abhauen würden. Könnten wir nicht wenigstens reingehen und den Fernseher anschalten? Da, wo ich aufgewachsen bin, betrachteten wir den Aufenthalt im Freien mit Misstrauen. Selbst im Hochsommer gingen wir nicht in den Garten, schon allein deswegen nicht, weil das Kabel für den Fernseher nicht so weit reichte. Im Leben der Familie Walsh hatte das Fernsehen immer eine wichtige Rolle gespielt; nichts, aber auch gar nichts – Geburten, Todesfälle, Hochzeiten – hatte sich je ereignet, ohne dass im Hintergrund der Fernseher gelaufen wäre, am besten mit einer lautstarken Seifenoper. Wie hielten die Devlins das nur aus – dauernd miteinander zu sprechen?
Vielleicht lag das Problem aber auch gar nicht bei ihnen. Vielleicht war ich das Problem. Die Fähigkeit, mich mit anderen zu unterhalten, schien aus mir zu entweichen wie Luft aus einem Ballon. Es fiel mir jetzt bereits schwerer als noch vor einer Stunde.
Mit ihren weichen Fingern strich Bella mir über die Kopf haut, und sie murmelte und brabbelte vor sich hin und hatte schließlich einen Punkt erreicht, wo sie mit ihrem Werk zufrieden war.
»Schön! Du siehst aus wie eine Prinzessin von den Maya. Guck mal.« Sie hielt mir den Handspiegel vors Gesicht. Ich erhaschte einen Blick von meinem Haar, das zu zwei lan gen Zöpfen geflochten war, und einem handgewebten Band, das unter meine Ponyfransen gewunden war. »Guckt mal, wie Helen aussieht.« Sie ließ ihren Blick über die anderen schweifen. »Ist sie nicht schön?«
»Sehr schön«, sagte Vonnie und klang überzeugend ehrlich.
»Wie eine Prinzessin von den Maya«, wiederholte Bella.
»Stimmt es, dass die Maya das Magnum erfunden haben?«, fragte ich.
Es entstand ein kurzes, überraschtes Schweigen, dann ging die Unterhaltung weiter, als hätte ich nichts gesagt. Hier war ich weit von meiner Wellenlänge entfernt.
»Sie sieht genau wie eine Maya-Prinzessin aus«, sagte Von nie. »Nur dass Helens Augen grün sind, und eine Maya-Prinzessin hätte sicherlich braune Augen. Aber die Haare sind genau richtig. Hast du gut gemacht, Bella. Möchtest du noch Tee, Helen?«
Zu meiner eigenen Überraschung war ich – wenigstens gerade jetzt – die Devlins gründlich leid, mit ihrem guten Aussehen und ihrer anmutigen Wohlerzogenheit und ihren Brettspielen und freundschaftlichen Trennungen und den Kindern, die zum Essen ein halbes Glas Wein bekamen. Ich wollte mit Artie allein sein, aber es würde nicht dazu kommen, und ich hatte nicht einmal die Energie, sauer zu sein – er konnte schließlich nichts dafür, dass er drei Kinder und eine anspruchsvolle Arbeit hatte. Er wusste nicht, wie es mir heute ergangen war. Oder gestern. Oder wie meine Woche verlaufen war.
»Keinen Tee mehr, Vonnie, danke. Ich sollte besser gehen.« Ich stand auf.
»Du gehst?« Artie sah mich eindringlich an.
»Wir sehen uns am Wochenende.« Oder wenn die Kinder das nächste Mal bei Vonnie waren. Ich hatte den Überblick über ihren Zeitplan verloren, der sehr kompliziert war und zum Ziel hatte, dass die drei Kinder mit beiden Elternteilen gleich viel Zeit verbrachten, nur dass die Tage von Woche zu Woche wechselten, je nachdem ob Artie oder Vonnie (meistens Vonnie, um ehrlich zu sein) einen Kurzurlaub planten, zu einer Hochzeit eingeladen waren oder dergleichen.
»Ist alles in Ordnung?« Ein besorgter Ausdruck zeigte
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