Glücksfall
Auto, wurde mir klar, dass ich kein Ziel hatte. Ich fuhr auf die Autobahn, aber als ich an die Ausfahrt zu dem Stadtteil kam, wo meine Eltern wohnten, ließ ich sie links liegen und fuhr einfach weiter.
Ich fuhr gern Auto. Ein bisschen war es, als säße man in einer Blase. Ich war nicht mehr da, wo ich weggegangen war, und noch nicht da, wo ich hinfuhr. Es war, als hätte ich beim Weggehen aufgehört zu existieren und würde erst wieder zu existieren beginnen, wenn ich ankam. Und das gefiel mir, dieser Zustand des Nicht-Seins.
Beim Fahren holte ich tief Luft durch den Mund und versuchte die Luft zu schlucken, um zu verhindern, dass meine Brust sich wieder verschloss.
Als mein Handy klingelte, brach mir der Angstschweiß aus. Ich nahm es und warf schnell einen Blick auf das Display: Nummer unterdrückt. Das konnten alle möglichen Leute sein – in letzter Zeit hatte ich jede Menge unwillkommener Anrufe gehabt, wie das bei Menschen mit un bezahlten Rechnungen eben so ist, aber ein Gefühl im Bauch sagte mir, wer dieser geheimnisvolle Anrufer war. Und ich würde ihm nicht antworten. Nach fünfmal Klingeln schaltete sich die Mailbox ein. Ich warf das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr weiter.
Ich drehte das Radio an, das immer auf Newstalk eingestellt war. Um diese Zeit am Abend gab es Off the Ball , eine Sportsendung mit Beiträgen, die mich nicht interessierten – Mannschaftsspiele, Laufsport und so. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Sportler und Trainer redeten, und erkannte an ihren Stimmen, wie wichtig das alles für sie war. Ich dachte: Für euch ist das so wichtig, aber mich berührt das überhaupt nicht. Und meine Sachen sind lebenswichtig für mich und bedeuten euch nichts. Gibt es denn etwas, das an sich wichtig ist?
Einen Moment lang sah ich die Dinge im rechten Maß. Für die Leute im Radio bricht eine Welt zusammen, wenn sie am Samstag nicht das Finale um den Lokalpokal gewinnen. Schon jetzt haben sie riesige Angst vor einer Niederlage. Und sie üben ihre Verzweiflung. Aber es ist nicht wichtig.
Nichts ist wichtig.
Mein Handy klingelte wieder: Nummer unterdrückt. Wie beim Mal davor hatte ich eine starke Vermutung, wer es war. Nach fünfmal Klingeln hörte es auf.
Die Autobahn war um diese Tageszeit – kurz vor zehn – fast leer, und die Sonne ging endlich unter. So war das Anfang Juni, die Tage waren endlos, und ich hasste dieses ewig dauernde Licht. Wieder klingelte das Telefon. Mir wurde klar, dass ich darauf gewartet hatte. Fünfmal klingeln, dann Ruhe. Wenige Minuten später das Gleiche noch mal. Klingeln, Ruhe, Klingeln, Ruhe, immer wieder, so wie er es früher schon gemacht hatte. Wenn er etwas wollte, dann musste es sofort sein. Schließlich griff ich nach dem Handy, und weil ich es unbedingt zur Ruhe bringen wollte, waren meine Finger anscheinend auf das Zehnfache ihres Umfangs geschwollen, sodass ich die Tasten nicht drücken konnte.
Endlich hatte ich es abgeschaltet und Jay Parker zum Schweigen verdonnert. Ich atmete auf und fuhr weiter.
Merkwürdige Wolken hingen am Horizont. Ich konnte mich nicht erinnern, schon einmal solche Formationen gesehen zu haben. Der Himmel wirkte fremdartig und bedrohlich, die Dämmerung blieb und blieb, das Licht wollte überhaupt nicht verschwinden, und ich glaubte es nicht länger aushalten zu können. Eine Welle furchtbaren Entsetzens wogte durch mich hindurch.
Ich war auf halbem Weg nach Wexford, als die Sonne end lich unterging und ich mich imstande fühlte, umzukehren und zu Mum und Dad zu fahren.
Als ich mich meinem neuen Zuhause näherte, erlaubte ich mir – für den Bruchteil einer Sekunde nur – die Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn ich mit Artie zusammenlebte. Sofort, als wäre eine Guillotine runtergesaust, schnitt ich den Gedanken ab. Ich konnte nicht darüber nachdenken, es ging nicht, es war einfach zu furchterregend. Nicht dass Artie etwas in der Richtung erwähnt hätte. Bella war die Einzige, die bisher davon geredet hatte. Aber was wäre, wenn ich feststellte, ich wollte mit ihm leben und er nicht mit mir? Oder schlimmer noch, dass er es doch wollte?
Meine Wohnung zu verlieren war so schon schlimm genug, ohne dass es zu Verwerfungen mit Artie führte. Es war zart, das Ding zwischen ihm und mir, aber wir kamen gut klar. Müssten wir notgedrungen über ein Zusammenleben nachdenken und dann feststellen, dass es zu früh dazu war – das würde uns nicht guttun. Auch wenn wir die Entscheidung einfach verschoben, würde es sich
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